Du verwebst alle mögliche Materialien zu Teppichen, sogar Kletterseile! Wie bist du auf diese Idee gekommen?
Estelle Bourdet: Ich gründete mein Studio im Jahr 2020 aus meiner Leidenschaft für Textilien, Inneneinrichtung und traditionellen Handwerkstechniken heraus. Angetrieben werde ich von dem Wunsch, traditionelle Webmethoden mit zeitgenössischem Design zu verschmelzen. Ich möchte ausgemusterten Materialien einen neuen Zweck geben und gleichzeitig Handwerkskunst und Nachhaltigkeit unterstützen.
Was zeichnet deine Arbeit aus?
EB: Mein Ziel ist es, in meinem Atelier und unter einem Dach meine Ideen zu entwerfen und aus recycelten Materialien greifbare Produkte zu weben. Meine Praxis des Webens bestimmt mein tägliches Leben. Ich werde von einer Vision angetrieben, die zu einer Lebensweise tendiert, in der Dinge gemischt, angebaut, geerntet, gewebt, verwendet und wiederverwendet werden.
Was ist dein Background?
EB: Mit Textilien als Hauptfach erwarb ich 2015 meinen Bachelor-Abschluss in Bildender Kunst an der Ecole Cantonale d'Art de Lausanne, der ECAL. Danach experimentierte ich während eines Jahres mit Textil-Techniken an der Hochschule Luzern HSLU. 2016 zog ich nach Schweden und tauchte in das traditionelle Textilhandwerk an der Schule für Handwerk und Design, Capellagården, ein. Da studierte ich von 2017 bis 2019. Zusätzlich besuchte ich den einjährigen Kurs «Ökologisches Gärtnern» von Capellagården, um mein Verständnis für den Anbau von Gemüse und Blumen, die Herstellung von Naturfarben und die Landschaftsgestaltung zu vertiefen.
Wow, da hast du ja schon einiges gemacht! Aufgewachsen bist du in der Westschweiz, richtig?
EB: Ich bin in einem Bergdorf namens Leysin in der Westschweiz aufgewachsen und habe damals alle möglichen Aktivitäten in der freien Natur gemacht. Die Sommer in meiner Kindheit verbrachte ich auch in der schwedischen Küstenregion Hälsingland. Meine schwedischen Verwandten waren Weber, und unser Sommerhaus ist voll mit ihren handgewebten Teppichen, anderen Textilien wie Vorhängen, Servietten und Decken sowie Fischernetzen und Werkzeugen. Diese Umgebung hat mich stark beeinflusst, was sich heute in meinen Projekten widerspiegelt.
Die Schweiz und Schweden werden immer gerne verwechselt. Wo findest du mehr Inspiration?
EB: Ein charakteristisches Merkmal meiner Arbeit ist die Verwendung von gebrauchten Materialien für den Schussfaden meiner Webarbeiten. Meine Hauptinspiration kommt aus dem Handwerk. Bei der Flickenteppichherstellung, bei dem Bettzeug oder Kleidung, die in Streifen umgewandelt wird, die für den Schuss eines Teppichs verwendet werden – auf Schwedisch Trasmatta genannt. Ich interpretiere dieses Handwerk neu, indem ich Baumwolltücher, Leinen oder andere Materialien, wie beispielsweise Seile, verwende. Diese Materialien, verwoben mit Baumwoll- oder Leinenfäden, ergeben haltbare Oberflächen. Meine Inspiration kommt also von überall.
Von wo kriegst du all diese Materialien her?
EB: Seit fast zehn Jahren sammle ich alle Arten von Materialien. Ich habe mich zum Handweben hingezogen gefühlt, weil ich darin etwas gefunden habe. Und zwar alle möglichen Erinnerungen mit diesen gesammelten Materialien zu verbinden. Es ist eine Möglichkeit, diese Erinnerungen zu materialisieren und sie in Objekte zu verwandeln. Wenn ich ausserdem gebrauchte Materialien, die bereits eine Geschichte haben, eine zweite Chance gebe, erhalten meine Textilien eine weitere Dimension, und in Kombination mit lebendigen Farben und Mustern werden sie authentisch. Sie nähren die Akustik, erzählen eine Geschichte, holen Erinnerungen hervor und erzeugen Behaglichkeit. Diese vielen Schichten verführen mich.
Das hast du sehr schön gesagt. Im House of Switzerland in Mailand präsentierst du dein Projekt «La Cordée». Was hat es damit auf sich?
EB: La Cordée ist ein Textilprojekt für Innenräume, das sich auf handgewebte Teppiche und Raumteiler aus recycelten Kletterseilen spezialisiert hat. Da ich in einer Gemeinschaft von Kletterern lebe, fiel mir auf, dass eine grosse Menge an Kletterseilen weggeworfen werden. Ich fühlte mich gezwungen, sie in den Schussfaden einer Weberei zu integrieren. Ich begann mit kleinen Arbeiten zu experimentieren, um schliesslich immer grössere und stärkere Stücke zu weben. Dieses Polyamidmaterial, das für seine Robustheit bekannt ist, eignet sich durchaus für den Webprozess. Die Seile im Schuss, kombiniert mit festen und bunten Baumwollfäden in der Kette, schaffen dynamische und dauerhafte Oberflächen aus Textilien. Wie bei meinen anderen Projekten verleihen ihre akustischen, schützenden und dekorativen Eigenschaften eine Vielseitigkeit und einzigartigen Charakter. Dabei können sie auf dem Boden als Teppiche, im Raum als Vorhänge oder an der Wand verwendet werden.
Hattest du auch etwas Glück mit der Nomination, weil Teppicharbeiten gerade beliebt sind?
EB: Eines der «Emerging Talents» des House of Switzerland Milano zu sein, ist für mich von grosser Bedeutung. Es ist eine Chance, Feedback zu erhalten, Anerkennung zu gewinnen und meine Präsenz in der Designgemeinschaft zu etablieren. Vor allem mit der diesjährigen Gruppenausstellung, die die Kreativität, Neugier und dynamische Qualität der Schweizer Designszene als positive Kraft für den gesellschaftlichen Wandel hervorhebt.
Was kommt als nächstes?
EB: Ich freue mich jetzt erstmals, mich von der kreativen Atmosphäre des Salone inspirieren zu lassen und von etablierten Designern und Künstlern zu lernen. Heute arbeite ich hauptsächlich an kundenspezifischen Aufträgen. Als Nächstes entwickle ich eine Installation für das Museum für Gestaltung in Zürich, die nächstes Jahr gezeigt wird. Neben der engen Zusammenarbeit mit Architekten habe ich mich auf die Entwicklung von Installationen vor Ort spezialisiert, bei denen meine handgewebten Textilien mit ihrer Umgebung in Beziehung treten und durch ihre Farben und Materialität Interaktionen fördern.