«Die Stadt der Zukunft muss lebendige Natur enthalten»

Interview mit Stefano Boeri

Ein Foto des Gebäude Bosco Vertical von aussen.

Mailand: Der Bosco Verticale ist zum Symbol eines Stadtteils Mailands und zu einem charakteristischen Element seiner Skyline geworden – und zu einem der am häufigsten auf Instagram geposteten Gebäude der Welt.

Ein Portraitfoto des Architekten in schwarz-weiss.

Visionär: Der italienische Architekt Stefano Boeri (geboren 1956 in Mailand) gehört zu den Hauptakteuren der Debatte um den Klimawandel im Bereich der internationalen Architektur.

Der Bosco Verticale in Mailand wurde 2014 fertiggestellt, mit dem Stefano Boeri sein Konzept des «vertikalen Waldes» zum ersten Mal umsetzen konnte – in Form von zwei begrünten Wohnhochhäusern. Die Bauten wurden international als Leuchtturmprojekt bekannt.

Mittlerweile gehört der italienische Architekt zu den Hauptakteuren der Debatte um den Klimawandel im Bereich der internationalen Architektur. An vielen Orten auf der Welt plant und baut das Büro Stefano Boeri Architetti weitere «grüne» Projekte zum zukunftsfähigen Zusammenleben von Mensch und Natur. Als Creative Explorer der munich creative business week (mcbw), die vom 11. bis 19. Mai 2024 unter dem Jahresmotto «How to co-create with nature» stattfindet, setzt Stefano Boeri wichtige Denkimpulse zum Thema. Wir sprachen mit ihm bereits vorab. 

 

Der Bosco Verticale existiert seit zehn Jahren. Wie sehen Sie dieses Projekt heute? Hat es einen wichtigen Denkanstoss zum Umdenken in Architektur und Stadtplanung liefern können?

Stefano Boeri: Der Bosco Verticale war und ist ein fortlaufendes Experiment. Das dahinterstehende Konzept, ein «Haus für Bäume zu sein, das auch Menschen und Vögel beherbergt», führte ein neues Format der architektonischen Artenvielfalt ein, das sich nicht nur auf den Menschen konzentriert, sondern auch auf die Beziehung zwischen Menschen und anderen Lebewesen, zwischen Gebäuden und lebendiger Natur. Nach zehn Jahren können wir sagen, dass wir ziemlich stolz auf die Ergebnisse dieses laufenden Experiments sind – nicht nur im Hinblick auf die gebaute Umwelt, sondern auch im Hinblick auf den öffentlichen Konsens. Die Tatsache, dass die UN den Bosco Verticale als Referenz für das 11. Ziel für nachhaltige Entwicklung «Städte inklusiv, sicher, belastbar und nachhaltig gestalten» nutzte, ist eine Errungenschaft, die unsere Bemühungen würdigt und bestätigt.  

 

Welchen Einfluss hat ein solches über und über begrüntes Gebäude auf seine Umgebung?

SB: Grünflächen – ob horizontal oder vertikal angelegt – tragen entscheidend zur Lebensqualität in unseren Städten bei, die heute besorgniserregend hohen Temperaturen und Verschmutzungsgraden ausgesetzt sind. Pflanzen und Bäume wandeln CO2 in Sauerstoff um; die einzige «Technologie», die in der Lage ist, das von uns bereits produzierte CO2 zu absorbieren und damit gewissermassen auszugleichen, ist die von Bäumen entwickelte Chlorophyll-Photosynthese. Bäume sind auch notwendig, um Schatten zu spenden, dem Wärmeinseleffekt entgegenzuwirken, die Luft durch das Herausfiltern von Schadstoffen zu reinigen, die Artenvielfalt zu erhöhen und ein insgesamt wohltuendes Mikroklima zu schaffen und so den Energieverbrauch im Zusammenhang mit der Kühlung zu reduzieren. Die Temperatur der Oberfläche von grünen Fassaden ist dank des Baumschutzes etwa 30 Grad niedriger, in den Wohnungen ist die Temperatur etwa 3–4 Grad niedriger. Ein vertikaler Wald kann eine enorme Hilfe bei der Verbesserung der Gesundheits- und Lebensqualität in der Stadt sein: Die 20 000 Pflanzen des Bosco Verticale entsprechen etwa 3 Hektar Wald oder 5 Hektar Park, konzentriert auf engstem Raum. 

 

In Mailand herrscht ein anderes Klima als in Eindhoven oder Kairo. Wie reagieren Sie mit den jeweiligen Bauten auf die klimatischen Gegebenheiten eines Ortes?

SB: Derzeit ist unser Studio an 77 Projekten in 28 Ländern beteiligt, wobei fünf grüne Gebäude in Huanggang, Nanjing, Antwerpen, Eindhoven und Treviso bereits fertiggestellt und viele weitere aktuell in Utrecht, Kairo und Mailand im Bau sind. Wir setzen uns immer mit den unterschiedlichen Kontexten auseinander und berücksichtigen bei der Planung stets die spezifischen Projektbedingungen. Die vertikale Aufforstung stellt ein Modell zur Kombination von Stadt- und Naturwelt dar, das je nach lokalen Klimazonen an unterschiedliche Umweltbedingungen angepasst werden muss. Bei den Projekten arbeiten wir mit Botanikern und lokalen Experten zusammen, um die am besten geeigneten einheimischen Arten auszuwählen und Parameter wie Bewässerung usw. optimal darauf abzustimmen. 

 

Utrecht: Das in Kooperation mit MVSA Architects entworfene Wonderwoods-Projekt will ein fortschrittliches Erlebnis des Zusammenlebens von Stadt und lebendiger Natur im Zentrum von Utrecht als Teil des neuen Healthy Urban Quarters schaffen. Die Variante des Vertical Forest wird 105 Meter hoch und umfasst etwa 200 Wohnungen.

Eindhoven: Im Kontext der Vision von Boeri für eine neue Architektur der Artenvielfalt wendet der 2021 fertiggestellte Trudo Vertical Forest das Vertical-Forest-Modell erstmals auf den sozialen
Wohnungsbau an.

Nach wie vor sind die meisten Metropolen erschreckend wenig grün. Warum läuft der Wandel vielerorts so schleppend – und wie müsste für Sie die perfekte «Grüne Stadt» aussehen?

SB: Die Stadt der Zukunft muss in einer immer komplexeren und vielschichtigeren Realität eine hohe soziale und funktionale Durchmischung gewährleisten; sie muss eine Vielfalt an Transportmitteln ermöglichen; sie muss alle Technologien beherbergen, die zur Optimierung des Energieverbrauchs erforderlich sind, und sie muss lebende Natur, Bäume und Pflanzen als Bestandteil und nicht nur als dekoratives Schmuckstück enthalten.

 

Sie sind zum Creative Explorer der mcbw 2024 ernannt worden, weil Ihre Arbeit exemplarisch für das Jahresmotto «How to co-create with nature» steht. Welche Kernaussagen sollte die Veranstaltung an die Welt senden?

SB: Wir wissen jetzt, dass Städte eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Zukunft unseres Planeten spielen und für mindestens 75 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich sind. Und in Städten müssen wir handeln. Grossstädte haben die Chance, ein integraler Bestandteil der Lösung des Klimawandels und der Umweltprobleme zu werden, die unser tägliches Leben beeinträchtigen – und nicht nur Opfer –, indem sie die Natur integrieren, die bestehende Natur erhalten und die Artenvielfalt erhöhen. Als Architekten und Planer ist es unsere Pflicht, die Komplexität der Systeme um uns herum zu verstehen, um besser auf zukünftige Herausforderungen reagieren zu können und neue Formen der Stadtplanung mit grösserer Sensibilität für die Umwelt zu untersuchen.

Die mcbw im Mai will eine Plattform bieten, um gemeinsam auszuloten, wie Design dazu beitragen kann, die Zukunft lebenswert zu gestalten – indem mit der Natur gestaltet wird und nicht gegen sie. Die beiden grossen Herausforderungen, die der biologischen Vielfalt und des Zusammenlebens lebender Arten, sind in der Tat die Grundlage für jedes Projekt des ökologischen Übergangs und der Reduzierung der durch den Klimawandel verursachten Schäden. Green Obsession ist daher eine Arbeitsverpflichtung und gleichzeitig ein Gestaltungsansatz, den ich gerne mit allen teilen möchte, die während der mcbw 2024 mit Mut und Optimismus auf die Zukunft unserer Städte und unserer Spezies auf dem Planeten blicken. 

www.stefanoboeriarchitetti.net

Ein Foto eines Posters.

Vom 11. bis 19. Mai 2024 bietet die mcbw in München eine Plattform, um aufzuzeigen, wie Design dazu beitragen kann, die Zukunft lebenswert zu gestalten.

munich creative business week

11. bis 19. Mai 2024

Die von Bayern Design veranstaltete «munich creative business week» (mcbw) ist Deutschlands grösster Designevent und Plattform für neue Ideen, Trends und Kreativität. Sie fördert den interdisziplinären Austausch und macht Design umfassend erlebbar, indem sie über neun Tage hinweg die Öffentlichkeit, Fachleute, Designer:innen, Unternehmen und Studierende aus Disziplinen wie Design, Architektur und Wirtschaft zusammenbringt.

www.mcbw.de

Das Cover der Zeitschrift Atrium


Den gesamten Artikel finden Sie in der Ausgabe 2/2024 der Zeitschrift Atrium.