Sie sehen aus wie übergrosse Baumpilze, die ein Eigenleben entwickelt haben und nun frei von ihrem Wirt in den Himmel wachsen. Wie Insekten, die aus der Unterwelt ans Licht gekrochen zu immenser Grösse herangewachsen sind und nun auf dem Boden lauern. Kann man sich trauen weiterzugehen, weiter vorzudringen in diesen Wald voller seltsamer Überraschungen? Ein weisses Haupt scheint die Besucher:innen durch dunkle Baumstämme hindurch anzustarren. Doch auch dies ist bloss eine übermannsgrosse Skulptur, eines von vielen Dutzend Objekten im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal. Der britisch-deutsche Künstler Tony Cragg hat hier eine «Kunsthalle» im Freien geschaffen, welche die Natur als Akteur miteinbezieht und sie zu einem Performancekünstler macht.
Buchen, Bergahorn, Eschen und Hainbuchen sowie Roteichen und Amberbäume spannen ihre Kronen zu einem grünen Schirm vor den Himmel. Allerdings ist dieser durchlässig. Sonnenstrahlen dringen partiell hindurch und entfalten ein spannungsreiches Spiel von Licht und Schatten. Regentropfen fallen gefiltert zu Boden. Sie überziehen die Oberflächen der Ausstellungsobjekte mit einem Glanz und lassen Farben leuchten. Raureif und Schnee fügen modellierend neue Linien und Formen hinzu. Dämmerung und Nebelschwaden verhüllen, entschleiern und fokussieren. Sie führen Regie mit einer eigenen stimmungsvollen Dramaturgie.
Was ist Kunst, was Natur? Für Tony Cragg, der bis 2013 die Kunstakademie Düsseldorf leitete, ist die Sache klar. Er sieht sich zwar als grossen Naturliebhaber, doch für seine Bildhauerei ist die Natur kein unmittelbares Vorbild. «Ich bilde nichts nach», sagt er mit Nachdruck. Was für den 75-jährigen Künstler zählt, ist die Materie. «Ich bin zwar kein religiöser Mensch, doch die Materie ist so erhaben, das können wir gar nicht verstehen», fügt er hinzu. Nach seiner Auffassung würden wir überhaupt nur einen Zipfel der Realität wahrnehmen. Das läge unter anderem daran, dass wir in einer verarmten Welt lebten, zumindest hinsichtlich von Materialität und Formenvielfalt. Was wir kennen, sind flache, quadratische, kreisförmige und einfache Geometrien. Die Natur hingegen strotzt von einer unendlichen Vielfalt. Sie lehrt uns, die Welt mit neuen Augen zu sehen, Ideen und Emotionen zu entwickeln. Bildhauerei ist für Tony Cragg ein poetischer Vorgang, eine Verdichtung, vergleichbar mit literarischer Dichtung. Aus einem inneren Prozess heraus fügt der Künstler Elemente zusammen, bis etwas Signifikantes passiert. Dennoch: «Es ist immer nur ein Zipfel, den man zu fassen bekommt. Es gibt zig weitere Möglichkeiten», so Cragg.
Bildhauerei ist für Tony Cragg ein poetischer Vorgang, eine Verdichtung, vergleichbar mit literarischer Dichtung. Aus einem inneren Prozess heraus fügt der Künstler Elemente zusammen, bis etwas Signifikantes passiert.
Viele dieser «Zipfel», aus denen der gebürtige Brite künstlerisch beeindruckende Werke erschaffen hat, finden sich im Skulpturenpark Waldfrieden. Etwa die «Dancing Column», eine Sandstein-Säule, deren übereinander angeordneten ovalen und scheibenförmigen Elemente zu rotieren scheinen. So entsteht der Eindruck von Leichtigkeit und Balance. Ebenso die Bronze «Early Forms», die zunächst wie eine riesige schwarze Raupe erscheint. Ein durchgängiger Spalt durchzieht diesen grossformatigen gewundenen Hohlkörper. Er sorgt für einen Kontrast zwischen tiefschwarzen Spalten und heller Reflexe auf der Oberfläche, welche die gesamte Skulptur beleben.
Die Werke vieler weiterer Bildhauer wie die von Henry Moore, Jaume Plensa, Eva Hild, Jaana Caspary, Erwin Wurm und Markus Lüpertz sorgen für einen abwechslungsreichen Querschnitt zeitgenössischer Bildhauerei. Die Topografie des Geländes und viele in sich geschlossene Räume ermöglichen diese Kunsterlebnisse. Kleine Lichtungen im Unterholz sorgen für entsprechende Örtlichkeiten, die von Tony Cragg instinktiv bestückt werden. «Ich kenne hier jeden Fuchsbau», sagt er. «Wir stellen es hin, schauen, ob es passt oder nicht. Gegebenenfalls stellen wir es wieder um.» Wie die Skulptur von Sean Scully. Die zu einem Kubus aufeinander getürmten, tonnenschweren Felsquader wurden kurzerhand wieder um rund 100 Meter versetzt, nachdem sie eine Sichtachse störten. Zusätzlich sind auf dem Gelände inzwischen drei Ausstellungspavillons entstanden. Die wechselnden Ausstellungen präsentieren dort Werke international bedeutender Künstler:innen. Vorträge, Gespräche sowie Filmabende und Konzerte runden das reiche Angebot für alle Kunst- und Kulturinteressierten ab.
Das Grundstück, das heute Waldfrieden hiesst, wurde 1890 vom Kaufmann Otto Cornelius aus Barmen erworben. Er begann dort, ein zweigeschossiges Wohnhaus zu errichten und Teile des Waldes in einen Park zu verwandeln. Noch während des Zweiten Weltkriegs übernahm der Lackfabrikant Kurt Herberts das Anwesen. 2006 wurde Tony Cragg auf den inzwischen verwaisten Ort aufmerksam. So konnte er seine Suche nach einem Ausstellungsgelände für Skulpturen im Freien schliesslich mit Erfolg krönen und das Anwesen erwerben. Noch heute lobt der Künstler die aussergewöhnliche Lage auf einem Hügelkamm über dem Tal der Wupper, weit entfernt vom städtischen Treiben. Hier oben empfängt die Besucher:innen die Stille eines mehr als 15 Hektar grossen Walds, von dessen Magie sie im Handumdrehen ergriffen werden.