Vielleicht haben Sie schon einmal von Margate gehört. Das dürfte 2011 gewesen sein, als dort das Museum für moderne Kunst namens «Turner Contemporary» eröffnet wurde. Die Architektur des Gebäudes, entworfen von Pritzker-Preisträger David Chipperfield, ist ein Kunstwerk für sich, bietet atemberaubende Ausblicke auf das Meer und sollte Margate einen ordentlichen Bilbao-Effekt bescheren.
Doch der ersehnte Hype liess auf sich warten, in den folgenden Jahren verirrte sich nur eine überschaubare Zahl an Besucher:innen in das Küstenstädtchen, das von London aus in eineinhalb Stunden per Zug zu erreichen ist. Das Museum wertete Margate zwar architektonisch auf, doch die Fassaden drum herum bröckelten erst einmal weiter.
Bis 2018 Tracey Emin, eine der bekanntesten britischen Künstlerinnen in der zeitgenössischen Kunstwelt, ihren Heimatort wiederentdeckte, London den Rücken kehrte und in Margate ein Atelier bezog. Dessen Umbau verantwortete der Sohn von David Chipperfield, Gabriel.
Obwohl Gabriel Chipperfield damals nicht direkt am «Turner Contemporary»-Projekt seines Vaters beteiligt war, prägte es seine Wahrnehmung für das Potenzial von Margate als kreativer Hub. «Tracey bestärkte mich, in Margate ein eigenes Immobilienprojekt umzusetzen», erinnert sich der 35-Jährige.
Der Rest ist Geschichte: Zusammen mit zwei Freunden ersteigerte er in einer Auktion ein leer stehendes Gebäude an der Promenade, nur einen Steinwurf vom Museum entfernt, baute dieses aus und eröffnete 2022 das Fort Road Hotel, das seitdem meist ausgebucht ist. «Das Ganze war ziemlich abenteuerlich: Wir hatten eine Ruine gekauft, die kompletten Bauarbeiten mussten während der Pandemie stattfinden, und obendrein kommen wir alle nicht aus dem Hotelbusiness», fasst Gabriel Chipperfield zusammen.
«Der Himmel über Thanet ist der schönste in ganz Europa.»
Sein Wagnis ist geglückt, das Hotel hat Magnetwirkung entwickelt, denn nun kann man in Margate auch stilvoll übernachten: Die 14 Zimmer des Fort Road Hotel sind in sanften Pastelltönen gehalten und mit Vintage-Möbeln ausgestattet, an den Wänden findet man abstrakte Ölgemälde, Aquarelle und Drucke, allesamt Originale. Und während sich die Bar im Kellergeschoss als Szenetreff der Locals etabliert hat, bekommt man oben, vom Dach des Hotels, ein Gefühl dafür, was diesen Ort so besonders macht.
Der Maler J. M. W. Turner, Namensgeber des Turner Contemporary Museums, hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts in die magischen Sonnenuntergänge von Margate verliebt und einmal bemerkt: «Der Himmel über Thanet ist der schönste in ganz Europa.» Turners Himmelsbilder wurden weltberühmt, und man stelle sich vor, dass Margate bis in die 1970er-Jahre eines der beliebtesten Seebäder in Grossbritannien war – bis zum Aufkommen von Billigflugreisen, mit denen die Brit:innen fortan lieber an der Adria urlaubten.
Doch nun, 50 Jahre und eine Pandemie später, sind die Touristen zurück. Man sieht sie von hier oben, wie sie am Pier in der Sonne sitzen, die Uferpromenade entlangspazieren und herausfinden wollen, warum plötzlich alle wieder über diesen Ort reden. Manche kommen nur für einen Tag oder ein Wochenende, andere sind geblieben.
Wie Kim Thomé, der für sich und seine Familie hier mehr Freiraum fand als im übersatten London. Der Produktdesigner arbeitet in seinem eigenen Atelier mit Werkstatt Tür an Tür mit anderen Kreativen, die nach Margate kamen, um einen Neustart zu wagen: «Hier gibt es eine ganz andere Dynamik als in der Hauptstadt, die Community ist kleiner und offener. Und es gibt noch viele Nichtorte, die mit Leben gefüllt werden wollen.»
Thomé griff während der Pandemie zum Beispiel spontan zu Farbe und Pinsel, um eine heruntergekommene Hütte, die an der Uferpromenade vor Wind und Wetter schützt, auf eigene Initiative mit einem Streifenmuster optisch auf Vordermann zu bringen.
Projekte wie diese verändern das Bild von Margate. Und wirken anziehend. Davon kann auch Amy Exton berichten. Die Set-Designerin träumte von einem eigenen Haus, das sie nach langem Suchen hier fand und zu einem AirBnB mit eklektisch-schrillem Interieur umbaute. Modefirmen wurden auf die ungewöhnliche Location aufmerksam, buchten sie für Fotoshootings – und nebenbei baute sich Exton ein eigenes Studio für moderne Mosaikkunst auf. «In London, wo ich die renommierte Mosaikschule besucht habe, wäre all dies undenkbar gewesen», fasst sie zusammen.
Dass Kunst der grösste Katalysator für den Wandel der knapp 65 000 Einwohner:innen grossen Stadt ist, bestätigt Robert Diament. Er leitet die Carl Freedman Gallery, für die mit dem Umzug von London nach Margate eine unerwartete Erfolgsgeschichte begann: «Früher hatten wir ein paar Hundert Besucher:innen pro Ausstellung, heute sind es ein paar Tausend. Wir haben plötzlich hochkarätige Sammler, Gäste die zum Beispiel extra aus Los Angeles anreisen. Aber auch einfach Kunstinteressierte, die in einer grossen Stadt nicht in eine Galerie gehen.»
Diament ist angetan vom Gemeinschaftssinn derer, die hier leben, und von der Bandbreite der Kreativität: Schauspielerinnen, Dokumentarfilmer, Schriftstellerinnen, Bildhauer, Designerinnen, Denker. Sie veränderten langsam, aber stetig, so seine Beobachtung, auch das politische Klima in der Stadt. Man muss wissen, dass hier zwei Drittel der Bevölkerung für den Brexit gestimmt haben und dass Margate zu den am benachteiligsten Orten der Region gehört.
Den Wandel der letzten Jahre haben Cynthia Lawrence-John and Rae Jones beobachtet und mitgestaltet: In ihrem Laden namens Werkhaus auf der Highstreet in der Altstadt verkaufen sie modetaugliche Arbeitskleidung, Vintage-Outfits und seit Kurzem auch eine eigene Kollektion. «Margate gibt uns Zeit und Raum, um zu leben, statt nur zu arbeiten und zu pendeln», sagen die beiden.
Mittlerweile, nach zehn Jahren in der Stadt, befinden sie sich in guter Gesellschaft, denn in einen Teil der immer noch leer stehenden Läden der ehemals wichtigsten Einkaufsstrasse ist eine neue Generation Geschäfte eingezogen: ein Plattenladen, ein Tattoostudio – auch das ausgezeichnete Fischrestaurant «Angela’s», das für seine nachhaltige Kochkunst sogar einen Michelin-Stern eingeheimst hat.
Margate erlebt einen Aufschwung, der ein bisschen an den in Londons Osten vor 20 Jahren erinnert. «Hackney on Sea» (Hackney: Trendbezirk in Ost-London) nennen daher viele Margate humorvoll. Mélanie Johnsson hat hier die perfekte Verbindung von kreativer Dynamik und entspanntem Leben am Meer gefunden.
«Die kreative Energie hier ist wirklich einzigartig, man muss sie selbst entdecken und erleben.»
Aufgewachsen auf der Insel Korsika, folgten mehrere Stationen in Grossstädten, wo sie als freie Grafikdesignerin und Illustratorin arbeitete – bis sie schliesslich der Liebe wegen in Margate landete. Und seitdem nicht mehr wegmöchte. Mit ihrem Partner betreibt sie eine Surfschule und illustriert unter anderem Magazine und Bücher, die sich mit dem Schutz der Meere auseinandersetzen. «Die kreative Energie hier ist wirklich einzigartig, man muss sie selbst entdecken und erleben», schwärmt die gebürtige Französin.
Ein letzter Blick auf den Uhrenturm an der Hafenmole, dort steht in Neonlettern «I Never Stopped Loving You». Es ist das flammende Bekenntnis von Tracey Emin zu ihrem Heimatort, in dem sie seit letztem Jahr auch ein Artist in Residence Programme für junge Künstler:innen anbietet. Unsere Bilanz: Ob gewachsene Beziehung oder frisch eingegangene Liaison – das neue Margate hat das Zeug zur Langzeitliebe.