Wahrscheinlich wurde kaum ein Möbel so oft neu gedacht wie der Stuhl. Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat die Schweiz eine Vielzahl ikonischer Entwürfe hervorgebracht, die als Zeichen ihrer jeweiligen Entstehungszeit gelesen werden können. Alle Modelle erfüllen die gleiche Funktion, sie bieten eine Sitzgelegenheit – und doch könnten sie nicht unterschiedlicher sein.
Galten Stühle bis ins 19. Jahrhundert als Luxusgut, machte sie die industrielle Produktion für eine breite Bevölkerung erschwinglich. Pionier war damals Michael Thonet, der um 1850 die ersten Bugholzmöbel in Serie herstellen liess. In der Schweiz dauerte es etwas länger, bis sich die Standardisierung des alltäglichen Bedarfs durchsetzte. Die ersten Typenmöbel der Moderne – kostengünstig, schnörkellos und daher miteinander kombinierbar und in jede Wohnung passend – entstanden ab 1926. Ein dem Thonet Klassiker nicht ganz unähnliches Modell war der Typenstuhl «293», den Architekt Max Ernst Haefeli mit der AG Möbelfabrik Horgen-Glarus entwickelte. Er bestand aus teils gebogenem Buchen- und Nussbaumholz mit einer Sitzfläche und Rückenlehne aus Joncgeflecht. Die Schweizer Variante besass im Gegensatz zum Wiener Modell jedoch keine runden Holzprofile. Die ersten Typenmöbel wurden zwar serienmässig produziert, entstanden aber überwiegend noch in Handarbeit und referenzierten «herkömmliche Wohnmöbel». Haefeli nahm die Möglichkeiten der industriellen Produktion nicht zum Anlass, um das Sitzmöbel neu zu erfinden – wie etwa einige Entwerfer des Bauhauses –, und mit der Tradition zu brechen, sondern suchte einen Kompromiss zwischen Kunsthandwerk und Industrieentwurf.
Als erstes Einrichtungsgeschäft für selbstproduzierte Typenmöbel in der Schweiz wurde 1931 die Wohnbedarf AG gegründet. Zeitgleich begann man in den 1930ern Holz durch Metall zu ersetzen. Ein herausragendes Beispiel für ein Stahlmöbel der Wohnbedarf AG, ist der «Steiger-Stapelstuhl» von Flora Steiger-Crawford, den sie 1932 für das «Zett-Restaurant» in Zürich entwarf. Er sollte ihr bekanntester Entwurf werden, der sich damals besser verkaufte als ein zeitgleich herausgebrachtes Stapelmodell von Alvar Aalto. Der einfache Stuhl von Flora Steiger war nicht nur platzsparend, auch wirkt er bis heute zeitlos.
Neben Holz produzierte die Schweiz damals nur Aluminium als Rohstoff im eigenen Land, weshalb ihm insbesondere zur Schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung zukam. Hans Coray entwarf für die sogenannte «Landi» einen gleichnamigen Gartenstuhl aus gehärtetem Aluminium, der zu den Ikonen des Schweizer Designs zählt. Coray konzipierte ihn als perforierten Schalenstuhl – damals eine Neuheit – und nahm damit das Prinzip der Schalenstühle von Charles und Ray Eames sowie Willy Guhl vorweg.
Willy Guhl und das Architektenpaar Eames experimentierten etwa zeitgleich mit einem damals völlig neuen Material. Der im Zweiten Weltkrieg entwickelte Kunststoff eroberte nun den Möbelmarkt. Guhl nutze diesen zum Entwurf ergonomischer Sitzmöbel. Sein Scobalit Stuhl von 1948 wurde der erste Kunststoffschalenstuhl Europas und kann als Pionierleistung hinsichtlich der Entwicklung von Polyesterstühlen sowie Ergonomie gesehen werden. Jedoch schien der Schweizer Markt noch nicht bereit für derartige Neuerungen, zum internationalen Erfolg wurden nur die Eames Stühle.
In den 1960ern fand nicht nur politisch ein Wandel statt, auch das Möbeldesign befand sich im Umbruch. Neue, ungezwungene Formen des Wohnens etablierten sich und das Sitzmöbel wurde dafür als Experimentierfeld genutzt. Nicht mehr puristisch, funktionale Ansätze standen im Vordergrund, sondern eine humorvolle Herangehensweise, die ein entspanntes Sitzen bzw. Liegen erlaubte. Bei der 1967 vom Schweizer Werkbund veranstalteten Aktion Chair Fun präsentierten Susi und Ueli Berger den «Soft Chair», eine massive Sitzskulptur aus Polyurethanschaum mit Plastikhaut. Diesem vorausgegangen war der 1961 entworfener Sessel «Multi-Soft», der dem Sitzen ebenfalls etwas Spielerisches verlieh und die Idee der bald populären Sitzlandschaft vorwegnahm.
Zur gleichen Generation wie die Bergers zählte auch Bruno Rey, der 1970 mit dem Stuhl «Typ 3300» für Dietiker eines der erfolgreichsten Schweizer Sitzmöbel schuf – den ersten schraubenlosen Stuhl mit patentierter Aluminiumkonsole. Zu dieser Zeit etablierte sich in der Schweiz IKEA, die preiswerte, praktische Möbel im Corporate Design anboten. Reys Erfolgsmodell für Dietiker steht exemplarisch für diese praktische Modernität – ökonomisch in der Herstellung und mehrheitsfähig in der Formgebung verzichtet der Stuhl auf optische Extravaganzen. Er gilt bis heute als meistverkaufter Schweizer Stuhl.
Diese Auswahl gibt nur einen kleinen Einblick in das Schweizer Sitzmöbeldesign – zahlreiche Modelle liessen sich noch ergänzen. Und doch zeigt sie exemplarisch die Vielfalt der Entwürfe, die Aussagen über deren Entstehungszeit und die damalige Gesellschaft sowie deren Vorstellung zum Wohnen und dem Interieur zulassen.
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