Mit dem italienischen Design ist es ein wenig wie mit der italienischen Küche – nach Antipasti, Primi, Secondi, Contorni und Dolce ist es manchmal eben doch etwas zu üppig. Oder anders gesagt, es ist das pure Gegenteil vom geradlinigen und zurzeit trendigen Skandinavien-Look. Italienisches Design ist nicht zaghaft, nicht reduziert und schon gar nicht minimalistisch. Italienisches Design steht im Raum, um gesehen zu werden, um zu verführen und den Betrachter ganz und gar einzunehmen. Einer der ersten Designer, der bereits vor 50 Jahren wusste, wie man ein Möbelstück richtig in Szene setzt, ist der heute 79-jährige Gaetano Pesce.
In der Nachkriegszeit gab es in der Architektur und im Design eigentlich nur eine Richtung – der Funktionalismus. Im Fokus stand nicht die Kreativität um Form und Ausdruck, sondern die reine Funktionalität. Gaetano Pesce trat diesem Gedanken mit radikalem Design und Pop-Aspekten entgegen. Er zerriss damalige Richtlinien und Gedankenmuster und ebnete den Weg für frische Ideen und kontroverse Entwürfe. Obwohl seine Arbeit auch mit einem Augenzwinkern betrachtet werden darf, bekräftigte er immer auch ihre politische Aussage. Und so war er einer der ersten Designer, der die Grenzen zwischen Design und Kunst aufhob und mit politischen Statements schmückte. Bestes Beispiel dafür ist der Sessel «Up 5» mit dem kombinierten Hocker «Up 6», den er 1969 für C&B Italia (heute B&B Italia) entwarf.
Die Anlehnung an die sinnlichen Rundungen der Frau ist beim Sessel nicht abzustreiten. Die obere Rückenpartie des Sessels gleicht dem üppigen Busen, die Sitzfläche den geöffneten Schenkeln. Und lässt man sich ins weiche und zugleich feste Polster fallen, so fühlt man sich augenblicklich geborgen oder zumindest zärtlich umarmt.
Anfangs der 70er Jahren wurde die «Up»-Serie zudem vom Fotografen Klaus Zaugg schrill-futuristisch abgelichtet. Die Kampagne machte nicht nur den Sessel, sondern auch Gaetano Pesce über Nacht weltbekannt. Die Werbekampagne wurde genauso gefeiert wie kritisiert, denn sie galt als feministisches Statement. Dabei spielte Pesce auch mit der Doppeldeutigkeit des Namens. Einerseits bezog sich der Name «Up» (kurz für «uprising») auf den Sessel, der sich damals noch dank eines schwammartigen Materials durch Luft vom Boden erhob (wie eine Art selbstaufblasbarer Sessel), andererseits konnte «Up» auch als Aufstand im Sinne einer Revolution verstanden werden.
Gaetano Pesce selber sagte Jahre später, dass er mit dem Sessel über die menschliche Situation sprechen wollte. «In jenem Augenblick erzählte ich eine persönliche Geschichte über meine Vorstellung von der Frau: die Frau, die trotz allem immer Gefangene ihrer selbst war. Mir gefiel die Idee, dem Sessel die Form einer Frau mit einer Kugel am Fuss zu geben; ein Bild, das auch der traditionellen Vorstellung eines Gefangenen entspricht. Und der Stuhl sollte über dieses Problem sprechen».
Heute, fast 50 Jahre später ist der Sessel «Up 5» (auch «Woman» genannt) ein weltbekannter Klassiker und Teil der ständigen Sammlung vieler Museen. Vielmehr ist er aber Sinnbild eines gesellschaftlichen Diskurses, der heute aktueller ist denn je.
Und sollten Sie irgendwann mal unverhofft einer «Woman» begegnen, so bewundern Sie nicht nur ihre sinnlichen Formen, sondern lassen Sie sich in ihren wunderbaren Schoss fallen.
Dies ist der Anfang einer Serie, in der wir Design-Klassiker und ihre Geschichte näher beleuchten.
Der Text wurde im Frühling 2018 auf fempop.ch erstpubliziert.