Was dabei herauskommen kann, wenn eine Architektin den Massstab wechselt und statt Häusern Broschen entwirft, zeigen die Schmuck-Serien von Fumiko Gotô.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Schmuck zu designen?
Fumiko Gotô: Zu der Zeit meines Architekturstudiums wurde der Begriff «Ornament» nicht betont. Vielleicht hat es mit meiner Generation zu tun, damals war der Funktionalismus noch das Hauptinteresse der meisten Architekten, mit ein paar Ausnahmen. Es gab aber auch andere Interessen, wie Postmodernismus, Futurismus und Eklektizismus, um nur einige zu nennen. Als ich in den 80er Jahren in Los Angeles Architektur studierte, waren die meisten von uns sehr von der Architektur von Frank Gehry beeinflusst. Ich hatte also nie die Gelegenheit zu lernen, «wie man ornamentiert», ausser durch das Anschauen von Beispielen aus der Vergangenheit, zum Beispiel in grossen Hörsälen bei Vorlesungen über Architekturgeschichte, die damals von Professoren gehalten wurden. Obwohl das Interesse und der Wunsch nach Ornament immer vorhanden waren, versuchten die Protagonisten des Funktionalismus, es unter dem Namen «Akzent» zu verschleiern. Jetzt, nach fast 40 Jahren praktizierter Architektur, war es für mich an der Zeit, das lang ersehnte Reich dieser «verbotenen» Frucht zu erkunden – das ORNAMENT.
Was sind für Sie die Parallelen zwischen Architektur und Schmuck?
FG: Da ich all die Jahre meines Lebens als Architektin und Designerin tätig war, kann ich die Einflüsse, die in meinem Denk- und Gestaltungsprozess bei der Herstellung von Schmuck auftauchen, nicht ausblenden. Inhärent stelle ich Bezüge zu den architektonischen Details her, Grundriss als Grafik, architektonischer Massstab in Bezug auf den menschlichen Körper, etc. Zum Beispiel habe ich eine Serie von Broschen, «Kumite ni Tsugite», inspiriert von den traditionellen japanischen Zimmerleuten, für meine Solo-Ausstellung in der Hannah Gallery im September 2020 geschaffen; sie ist auch für die Craft-Biennale in Korea 2021 ausgewählt. Ein weiteres Beispiel, eine Diptychon-Brosche, «Le désir d'Ise», mit der ich 2020 an der Biennale in Litauen teilnahm, war meine Interpretation des Biennale-Themas «Museum», als Schrein als Ort der Spiritualität, der den Grundriss des berühmten Ise-Schreins in Japan grafisch widerspiegelt. In meiner aktuellen Arbeit «Maquette 1:1» geht es um den architektonischen Massstab und den menschlichen Körpermassstab. Ich nehme architektonische Ornamente, wie Leisten, Kronen, Stuhlschienen, Sockelbretter, und mache sie zu Körperornamenten, nämlich Broschen. Die Elemente, die man aus der Ferne in einem Raum betrachtet, Kranzleisten an der Decke oder Handläufe, die einen durch den vertikalen Raum führen, werden nun auf den Körper gelegt – der Mensch wird zum Empfänger dieses architektonischen Elements, nicht der Raum. Vielleicht versuche ich, den Raum zu definieren, indem ich meinen Schmuck als Medium benutze.
Wovon lassen Sie sich inspirieren?
FG: Inspiriert werde ich unter anderem von den traditionellen japanischen Motiven, die aus dem Reichtum der dortigen Natur entnommen und von japanischen Künstlern in unverwechselbare Formen abstrahiert und zu aussergewöhnlichen Artefakten weiterverarbeitet werden. Inspiriert von diesen reizvollen Artefakten setze ich diese Konstitutionen in Schmuck um und verwende dabei Materialien, die an das farbliche Erbe des traditionellen Japans erinnern. Wie ich bereits erwähnt habe, beeinflussen meine Erfahrungen als Architektin und Designerin mein Denken und meinen kreativen Prozess, und wie in der Architektur richte ich den Massstab meines Schmucks nach der menschlichen Physiologie aus. in diesem Fall, bei der Schaffung von Schmuck, nämlich die Grösse, die in den Mund passt. Ich bin sehr inspiriert von den traditionellen japanischen Süssigkeiten-«Wagashi», und besonders die Grösse «hitokuchi», was «Mundvoll» bedeutet, hat es mir angetan – ein Bissen kann ganz, auf einmal, eingenommen werden, ohne vorher ein Stück abzubeissen.
Wie dürfen wir uns den Designprozess vorstellen? Haben Sie bereits vor der Fertigung eines Schmuckstücks das Design vor Augen oder entwickelt es sich während der Herstellung?
FG: Mein kreativer Prozess beinhaltet sowohl einen formulierten Plan als auch das spontane «Geleitet-Werden» durch das Material. Zahlreiche konzeptionelle Ideen kreisen ständig in meinem Kopf, nachdem mich einige Inspirationen und Einfälle gepackt haben – manche Konzepte sind kurzlebig, andere verweilen über Tage und Nächte und Monate. Manchmal gelingt es mir, diese Konzepte in konkrete Formen umzuwandeln, ein anderes Mal scheitert die Übersetzung fatal. Meistens zeichne ich in der Anfangsphase, in der ich versuche, meine Ideen zu definieren, meine Formen zuerst mit CAD, um grob die Umrisse, Proportionen und Grössen zu bestimmen –mit CAD sind Abwechslung und Variationen leicht möglich, da ich es gewohnt bin, Grundrisse und Schnitte zu zeichnen. Der grosse Unterschied bei der Schmuckherstellung ist jedoch der Massstab. Das Arbeiten mit dem Massstab 1:1 wirkt sehr direkt und analog. Von Zeit zu Zeit passiert jedoch ein schöner Zufall, als ob die bereits geformten und ausgeschnittenen Elemente auf meiner Werkbank aufeinandertreffen und sich zueinander hingezogen fühlen, als ob sie magnetisiert wären und aneinanderhaften würden, um ein «Wesen» zu schaffen, wie eine karmische Beziehung.
Stellen Sie den Schmuck selbst her? Was bedeutet Ihnen dieser Prozess?
FG: Das Schnitzen, mit dem ich meine Schmuckstücke normalerweise herstelle, ist ein sehr analoger Prozess, bei dem ich mit meinen Händen und einigen Werkzeugen arbeite, wie auch maschinelle Hilfsmittel verwende. Es war eine sensationelle Wiederentdeckung nach vielen Jahren, wie schön es ist, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, das Material physisch in die Hand zu nehmen, die Textur mit den eigenen Fingern zu untersuchen – alles mit dem Massstab 1:1. Die Herstellung von Schmuck ist ein Ein-Personen-Akt. Bei der Schmuckherstellung habe ich von Anfang bis Ende die Kontrolle über meine Entscheidungen. Das ist ganz anders als in der Architektur, wo es immer um Zusammenarbeit geht – mit Kunden, Baufirmen, Behörden, der Umwelt usw. Die Herstellung von Schmuck ist jedoch eine von vielen Möglichkeiten, seine kreativen Wünsche auszudrücken.
Welche Materialien kommen zur Anwendung und wie wählen Sie die Materialien aus?
FG: Ich wähle unter anderem Stoffe, die an traditionelle japanische Materialien erinnern, wie etwa geschnitztes und poliertes schwarzes Büffelhorn, das an Schwarzlackware erinnert; Mammut-Elfenbein als Ersatz für geschütztes Elfenbein, das für Netsuke-Schnitzereien weit verbreitet war; und Edelsteine, die das chromatische Erbe des traditionellen japanischen Schmucks hervorrufen. Speziell für die Serie der «Kumite ni Tsugite» habe ich Bernstein umfassend als Einlegeelement gewählt. Diese warme gelbe Farbe erinnert an das Aussehen von Schildkrötenpanzern, die wiederum in der Vergangenheit ausgiebig für Haarschmuck namens «Kanzashi» verwendet wurden. Bei meinem aktuellen Projekt «Maquette 1:1» veredle ich handgeschnitztes Buchenholz mit japanischem Urushi-Lack. Das Auftragen von Urushi-Lack ist eine Disziplin für sich, aber für mein Interesse und Konzept, Holz als architektonisches Formornament zu verwenden und auf das Ornament des menschlichen Körpers zu transformieren, habe ich diese faszinierende Substanz gewählt, die traditionelle japanische Möbel und Utensilien exquisit perfektioniert hat.
Wie würden Sie Ihren Schmuck in wenigen Worten beschreiben?
FG: Das ist eine schwierige Frage! Ich habe das Gefühl, dass ich etwas Hybrides und Eklektisches erschaffe – wie meine unterschiedlichen Interessen und Hintergründe: Ich bin in Japan geboren und aufgewachsen, habe Kunst und Architektur in den USA studiert und lebe und arbeite jetzt in der Schweiz. Jede Phase hat bei mir Eindrücke hinterlassen und mein Interesse geformt. Vielleicht picke ich mir von allem das Beste heraus und ordne dies auf eklektische Art und Weise neu an. Oft bin ich mir nicht sicher, wie ich meine Schmuckstücke definieren soll, aber ich bezeichne sie als «Schmuck», lediglich weil sie am menschlichen Körper tragbar sind. Interessanterweise sind die Reaktionen der Leute beim Betrachten meines Schmucks solche: «So etwas habe ich noch nie gesehen», was besagt, dass auch sie Schwierigkeiten haben, herauszufinden, was es ist. Vielleicht ist das Streben danach, herauszufinden, worum es in meiner Arbeit geht, und folglich meine Arbeit mit ein paar Worten beschreiben zu können, die treibende Kraft für mich, unaufhörlich zu schaffen.
Fumiko Gotô wird von der Hannah Gallery in Barcelona repräsentiert. Einige ihrer Arbeiten befinden sich zudem in der Collection des mudac, musée de design et d’arts appliqués contemporains, in Lausanne.