Das Zürcher Neumarkt Theater bekommt eine neue Leitung: Die drei jungen Dramaturginnen Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert werden sich die Direktion teilen. Ein Gespräch über Theaterheimat, Zugehörigkeit und Gastfreundschaft.
Ab August übernehmen Sie die Direktion des Neumarkt Theaters. Wie erleben Sie die Übergangszeit bis dahin?
Hayat Erdoğan: Sehr vielgestaltig, wir bewegen uns zwischen kleinen Details bis hin zu grundsätzlichen Fragen wie der Spielplangestaltung. Welche Stoffe kommen bei uns vor und warum? Wer wagt sich an die Bearbeitung welcher Stücke, Romane oder Filmadaptionen? Wir hinterfragen, warum etwas bei uns stattfindet, was genau wir damit erzählen und wie wir es mit einem für uns relevanten Credo zusammenbringen. Etwa dem der Vielheit – sowohl der ästhetischen, der personellen als auch der inhaltlichen. Es macht extrem Spass, ist aber auch wahnsinnig absorbierend. Im Moment sind wir heimatlos, da wir noch keinen festen Arbeitsort haben. Meist treffen wir uns hier im Restaurant Markthalle oder in meiner Wohnung. Die ist quasi unser Basislager, wo wir auch das Konzept für das Neumarkt geschrieben haben.
Inwiefern kann einem das Theater zur Heimat werden?
Tine Milz: Vieles läuft über Identifikation. Dass wir nahbar sind als Direktorinnen, oder dass man sich mit dem Ensemble und der künstlerischen Ästhetik identifizieren kann. Ein wichtiges Stichwort ist für uns die Gastfreundschaft: Wie wird ein Theater zu einem Ort, wo man gerne verweilt, um sich zu begegnen und zu verstricken, zu lieben, streiten, spielen. Was braucht es dafür? Eine Bibliothek vielleicht, wo Leute auch während der Proben hinkommen, um Zeit zu verbringen oder Leute kennenzulernen? Ein Theater soll ein nahbarer Ort sein.
Julia Reichert: Da ist das Theater natürlich paradox, weil es eine flüchtige Form ist. Die meisten Menschen, die am Theater arbeiten, haben sehr bewegte Biografien. Man ist nicht sein Leben lang in einer Stadt. In dieser Kunstform «steckt» noch immer das «fahrende Volk» mit drin. Trotzdem entsteht Gemeinschaft, wenn Leute aus allen Himmelsrichtungen im Saal zusammenkommen. Und die Institution als solche ist natürlich nochmals etwas anderes, eine andere temporäre Heimat als an einem einzelnen Abend.
HE: Ich mag Vilém Flussers Formulierung «Wohnen in der Heimatlosigkeit» ganz gern. Wie entsteht bei all dieser Fluidität ein Gefühl von Heimat? Ein Rückzugsort, ein Safe Space, wo man sich wohl fühlt, obwohl er nicht von Dauer ist?
Vielleicht bündelt sich Heimat nicht an einem Ort, sondern entsteht durch eine andere Verbindlichkeit: über ein Gefühl des Verbundenseins.
Was bedeutet dies in Bezug auf die Architektur des Neumarkts?
JR: Unser grosser Standortvorteil im Neumarkt ist, dass man so nah dran ist. Egal, ob ein interaktives Format gespielt wird oder nicht, man ist sich nah und kommt dadurch leicht in Kontakt. In grossen Kulturtempeln ist immer eine gewisse Schwelle zu überwinden. Das Neumarkt wurde nicht als Theater gebaut. Während seiner Geschichte wurde es ganz unterschiedlich genutzt, wurde immer wieder «überschrieben». Ursprünglich war es ein Zunfthaus, später diente es unter anderem als Mädchenschule, als Treffpunkt für die Arbeiterbewegung oder als Cabaret. Wie kann man diese Schichten, die unter dem aktuellen So-Sein des Ortes liegen, wieder aktivieren und spürbar werden lassen?
TM: Meist diente das Gebäude ja in irgendeiner Form als Versammlungsort. Was bedeutet das heute? Wie kommt man miteinander ins Diskutieren, ohne in die Bevormundung zu gehen, was diese Kunstform ja durchaus teilweise mitbringt, weil es eben eine bestimmte Direktion hat: Der eine macht was, die anderen gucken zu. Wie kann man das porös werden lassen, auflösen, dass man gar nicht mehr nur als die «passiven» Konsumenten angesprochen wird?
Inwieweit liegen Ensemble und Spielplan bereits fest?
HE: Das Ensemble stellen wir gerade zusammen. Der Spielplan steht etwa zu 70 Prozent – da bewegt sich aber noch einiges. Wenn man denkt, er sei fertig, kommt sicher jemand mit einer Idee und schmeisst nochmals alles um. Die erste Spielzeit läuten wir mit einer Inszenierung eines amerikanischen Aktivisten ein. Mehr verraten wir noch nicht, das definitive Programm werden wir in Teilen vor der Sommerpause präsentieren.
JR: Wir möchten mit Überzeugungstätern jeglicher Disziplin zusammenarbeiten – wieder das Stichwort Vielheit. Theatererfahrung ist nicht zwingend notwendig. Aber sie müssen für etwas brennen. Und dann finden wir gemeinsam ein theatrales Setting.
Sie werden neue Formate und Produktionsweisen in den Spielplan integrieren. Was beinhaltet das genau?
TM: Obwohl das Haus so klein ist, werden wir es künftig in drei Sparten bespielen. Was natürlich erstmal ein bisschen lächerlich klingt, normalerweise sind Dreispartenhäuser ja sehr gross mit entsprechender Infrastruktur. Trotzdem wird es bei uns drei Sparten geben: Akademie, Theater und Playground. Sie werden auch gar nicht hermetisch voneinander abgeriegelt sein. Die Akademie ist der Versuch, philosophische, theoretische, wissenschaftliche Themen in ästhetischen Settings zugänglich zu machen.
JR: Im Playground geht es eher um spielerische Versuchsanordnungen. Das können offene Proben sein oder unterschiedliche Formate, wie z.B. Mimikry. Ein Format, bei dem wir das Theater jedes Jahr einmal in einen anderen Ort verwandeln. Wir «überschreiben» ihn temporär. Ausserdem bieten wir in der Chorgasse Residencies für Künstlerinnen und Künstler an, die sich über einen längeren Zeitraum mit verschiedenen künstlerischen Recherchen und Forschungsfragen auseinandersetzen können. Im Playground soll es auch Formate von unserem Ensemble geben; etwa, dass eine Schauspielerin eine eigenständige performative Arbeit entwickelt und zeigt. Das hat für uns im weiteren Sinne auch mit Gastfreundschaft zu tun: Was brauchen Künstler, um gut zu werden, um sich zu Hause zu fühlen – auch wenn manche nur kürzer da sind und andere länger. Oder: Wie gehen Kunst und Leben zusammen?