Designkultur von gestern bis heute

Ausstellung «Das sitzt – 150 Jahre Dietiker Stuhlfabrik»

Ausstellung «Das sitzt – 150 Jahre Dietiker Stuhlfabrik» in Stein am Rhein.

Die Ausstellung «Das sitzt – 150 Jahre Dietiker Stuhlfabrik» in Stein am Rhein rollt die Designgeschichte um Dietiker auf eindrückliche Weise auf.  

Wie wird aus einem Gewerbebetrieb eine Marke? Oder anders gefragt: Wann wird ein Gebrauchsgegenstand zum Designobjekt? Solchen Fragestellungen geht auch die Ausstellung «Das sitzt – 150 Jahre Dietiker Stuhlfabrik» im Kulturhaus Obere Stube in Stein am Rhein nach. Dass ausgerechnet eine Firma aus der gleichen Ortschaft in den Genuss einer Schau kommt, ist kein Zufall. Die Jakob und Emma Windler-Stiftung, welche die Kultureinrichtung betreibt, möchte in den im Herbst 2022 eröffneten Räumlichkeiten neben Sonderausstellungen zu aktuellen Themen und zeitgenössischer Kunst den Fokus auch auf die Geschichte des Industriestandorts richten. Zudem soll die neue Ausstellungsreihe «Design und Nachhaltigkeit» für die multiplen Herausforderungen sensibilisieren, mit denen Design heute konfrontiert ist.

Ausstellung «Das sitzt – 150 Jahre Dietiker Stuhlfabrik» in Stein am Rhein.

Die Ausstellung setzt nicht nur die facettenreiche Vergangenheit des Möbelunternehmens in den Fokus, sondern thematisiert auch die Geschichte des Industriestandorts.

Die Firma Dietiker passt so gesehen doppelt ins Konzept des Ausstellungsprogramms. Dietiker zählt zu den ersten Fabriken, Gewerbebetrieben und Werkstätten, die sich im Zuge der Industrialisierung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Stein am Rhein im sogenannten Mühlenquartier ansiedelten. Die Brüder Schläfle gründeten 1873 mit Julius Auer eine Möbelschreinerei und stellten ab 1878 in der ehemaligen Spitalmühle in Stein am Rhein Stühle, Tische und Kleinmöbel her. Die Entwicklung der Stuhlfabrik ist ein wichtiger Teil der Steiner Industriegeschichte. Die Designkuratorin Ariana Pradal konzentriert sich auf die Geschichte, nimmt aber den Faden ab einer Periode auf, in der eine spannende Transition geschah. Dieser Übergang fand in den späten 1950er-Jahren statt, als das Unternehmen an die Migros verkauft wurde; zu jener Zeit begann auch die Zusammenarbeit mit dem aus Stein am Rhein stammenden Designer Willy Guhl (1905 – 2004). In den darauffolgenden Jahren entstanden unter der neuen Leitung des Geschäftsführers Edlef Bandixen mehrere markante Modelle aus der Feder bekannter Schweizer Designer*innen. Diese Entwürfe prägen bis heute das Gesicht und die Identität der Marke Dietiker. 2001 erwirbt die Familie Felber das Unternehmen, 2010 übernimmt Nathalie Felber Kaplan die Leitung.

Ausstellung «Das sitzt – 150 Jahre Dietiker Stuhlfabrik» in Stein am Rhein mit Besucher*innen, die einen Film schauen.

In den Film- und Audiointerviews geben diverse Persönlichkeiten wie etwa Nathalie Felber Kaplan, Rolf Hay oder Trix und Robert Haussmann Auskunft über das Thema Stuhl.

Um die facettenreiche Geschichte des Herstellers in einer Schau sichtbar und zugänglich zu machen, recherchierte Pradal zwei Jahre lang in den Archiven von Dietiker und führte Gespräche mit verschiedenen Protagonist*innen, die einen Bezug zur Firma besitzen. Letztere können Besucher*innen im ersten Raum der Ausstellung erleben. In den Film- und Audio- Interviews geben Nathalie Felber Kaplan (Chairwoman Dietiker AG), Rolf Hay (Mitbegründer und Kreativdirektor von Hay), Christoph Hindermann (Designer), Karl-Heinz Bruns (Strategie und Entwicklung Dietiker AG), Katharina Läuppi-Henke (ehemalige Lehrtochter bei Dietiker) und Trix und Robert Haussmann (Architektin und Designer) Auskunft über das Thema Stuhl. Wir erfahren dabei, was in ihren Augen ein Stuhl können muss oder ob sie einen Lieblingsstuhl haben. Und wo sitzt man beim Zuschauen und Zuhören? Natürlich auf einem Dietiker-Stuhl! Dabei kann man sich wunderbar ins Thema «einsitzen» – und erkürt bei dieser Gelegenheit am besten gleich einen persönlichen Lieblingsstuhl. Im Fall der Autorin ist dies das Modell 3300 oder kurz 33er, das nach seinem Gestalter Bruno Rey (1935 – 2019) auch einfach Rey-Stuhl genannt wird. Was diesen Entwurf aus 1971 so besonders macht, lernt man im oberen Stock.

Der Stuhl Rey von Dietiker in schwarz.

Einen besonderen Fokus legt die Ausstellung auf den bekannten Rey Stuhl. Das beliebte Sitzmöbel war einst für Cafeterien und Kantinen gedacht und erfreut sich heute noch grosser Beliebtheit.

Dort geht die Ausstellung weiter und inszeniert in einer Art Riesenregal, wie man sie aus Warenlagern kennt, die prägendsten Entwürfe aus dem Hause Dietiker. Die Szenographie stammt von gasser, derungs Innenarchitekturen, die grafische Umsetzung von Groenlandbasel. Ergänzt wird die Präsentation durch Skizzen und einzelne Bestandteile der Stühle. Besonders faszinierend ist dieses vertiefte Eintauchen in die Materie bei «meinem» Rey-Stuhl. Denn dabei zeigt sich, dass das prägende Merkmal des Entwurfs, nämlich die runde Sitzfläche, welche die Stuhlbeine nicht berührt, auf einer langen Recherche Bruno Reys gründet. Die Skizzen und Pläne dokumentieren, dass sich der Designer schon in den 1960er-Jahren mit der Entwicklung eines Verbindungsstücks von Sitzfläche und Stuhlbein befasste. 1970 begann die Zusammenarbeit mit Dietiker. Gemeinsam mit Edlef Bandixen gelang Rey eine Erfindung: Ein Aluminiumgussteil, das dank eines starken Klebers Holz und Metall ohne Schrauben miteinander verbindet. So konnte der Stuhl 1971 in Serie gehen.

Nach kleineren Anpassungen der Konsole wird der Rey-Stuhl bis zum heutigen Tag auf diese Weise hergestellt.

Ausstellung «Das sitzt – 150 Jahre Dietiker Stuhlfabrik» in Stein am Rhein.

In einem Riesenregal inszeniert die Ausstellung die prägendsten Entwürfe aus dem Hause Dietiker.

Im Zuge einer Kooperation mit der dänischen Marke Hay, die den Stuhl heute ebenfalls auflegt, wurden die Dimensionen minimal angepasst; diese an heutige Bedürfnisse adaptierte Version trägt den Modellnamen Rey 22. Die ausgeklügelte Konstruktion und sein zeitloser Auftritt machen den Stuhl zu einem ikonischen Designobjekt, das gleichzeitig ohne Allüren daherkommt. Der Entwurf passt in durchgestylte Wohnräume genauso wie in funktionale Kantinen oder Restaurants. Kein Wunder gehört das solide Möbel zu den meistverkauften Stühlen aus Schweizer Produktion. Heute wird der Rey-Stuhl zwar in Ungarn gefertigt, kann aber nach wie vor zur Auffrischung in die Fabrik geschickt werden. Langlebigkeit ist wichtiger Hebel, was Nachhaltigkeit betrifft. Diese Themen werden im Rahmen der Ausstellung auch in Workshops, Podiumsdiskussionen und Führungen aufgenommen.

 

Die Ausstellung dauert bis am 31. Oktober 2023, Infos unter: www.kulturhaus-oberestube.ch