Einsam spazieren Richter:innen über den weiten betonierten Platz. Ihre schwarzen Roben wehen sanft im nordindischen Wind. Im Hintergrund ist das Open Hand Monument zu erkennen, eine offene, im Luftzug rotierende Riesenhand, die an eine Friedenstaube erinnert. Das 50 Tonnen schwere, auf eine rotierende Säule montierte Monument ist eine Hommage an den architektonischen Urheber des weitläufigen Capitol Complex von Chandigarh: Le Corbusier, bürgerlich Charles-Édouard Jeanneret-Gris, ein schweizerisch-französischer Architekt. Zur Linken das imposante Parlamentsgebäude, daneben The Secretariat, in dem die Ministerien zweier indischer Bundesstaaten untergebracht sind. Zur Rechten ein nicht minder beeindruckendes Gebäude, in dem der High Court von Punjab und Haryana wirkt. Das Ensemble ist aus Sichtbeton, im Fachjargon «Béton Brut», gebaut, nur die drei kräftigen Farben des Eingangs zum Hohen Gericht schreien Kontrast.
Wunden heilen
Während der frische Wind aus den nördlich gelegenen Ausläufern des Himalajas die Arbeitskleidung der Richter:innen umspielt, erfasst das monumental wirkende Beton-Trio die Sinne des Betrachters: gegossene Geschichte, ein architektonisches Statement wilder Entschlossenheit, merkwürdig eindringlich, dessen städtebauliches Layout strenge Kühnheit durchdringt. Es ist das Hirn einer Stadt, das vom übrigen Stadtkörper penibel abgeschottet ist und etwas musealisiert wirkt.
Dabei verkörpert die Beton-Ästhetik aus den 1950er-Jahren eine unglaublich visionäre Absicht, die etwas vollkommen Neues kreieren, ja, vielleicht sogar die «neue Stadt» erbauen kann. Ihr Entwurf sendet die Botschaft aus, in bessere Zeiten der Menschheit aufbrechen zu wollen und das alte, kriegerische, zerteilende und koloniale Erbe endgültig hinter sich zu lassen. Das Projekt Chandigarh, der Bau einer neuen Hauptstadt vom Reissbrett, war für das junge, im Jahr 1947 unabhängig gewordene, moderne Indien ein schillernder Wurf, um mit einer gewaltigen staatlichen Anstrengung etwas aus dem Boden zu stampfen, das die Wunde eines geteilten indischen Subkontinents heilen sollte: hier Indien, dort Pakistan, und die Grenze mitten durch das historische Fünfstromland Punjab verlaufend.
Auch heute, fast 80 Jahre später, ist die architektonische Botschaft noch immer ein städtebauliches Fanal für den Fortschritt sowie für die Machbarkeit und Gestaltbarkeit der menschlichen Zukunft. Die «Krone seiner Arbeit», wie Le Corbusier sein indisches Abenteuer zum Ende seines Lebens selbst bezeichnete, ist trotz allen Scheiterns am und im indischen Alltag ein unglaublich wertvoller städtebaulicher Schatz, der seit 2016 den Status UNESCO-Welterbe trägt. Interessanterweise kam der Antrag für die Aufnahme in diesen Rang nicht aus den Reihen indischer Regierungsstellen, sondern war eine Initiative aus Frankreich, dem Wirkungsort des legendären Architekten und Pioniers der klassischen Moderne.
Auf dem Misthaufen der Geschichte
Als 1952 der Grundstein für Chandigarh gelegt wurde, lebten nur ein paar Tausend Menschen in der Region. Heute sind es rund sieben Millionen, die in der sogenannten TriCity – Chandigarh in der Mitte (mit etwas mehr als einer Million Einwohner:innen) und Mohali sowie Panchkula rundherum – leben. Während die Epoche eines charismatischen Jawaharlal Nehru und seines politischen Habitus eines eigenen indischen Sozialismus inzwischen auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet zu sein scheint, ist im Parlamentsgebäude vom Capitol Complex der Atem jener Ära noch zu spüren: avantgardistische Treppenaufgänge, kontrastreiche Farben, expressive Formen, organische Wandgestaltung.
Und während indische Arbeiter in den 1950er-Jahren mit blosser Muskelkraft den Beton für die ersten Fundamente anrührten, lagen der jetzige indische Ministerpräsident Narendra Modi und sein Hindu-Nationalismus noch in den Windeln. Damals war nicht vorauszusehen, dass die demokratische Verheissung eines von den Briten unabhängigen Indiens in ein heute autokratisch orientiertes Staatsgebilde deformiert werden würde. Mit dem nach der Unabhängigkeit proklamierten Aufbruch in eine «neue Zeit» hat die Gegenwart einer BJP und eines Modi zumindest im realpolitischen Kontext nicht mehr viel gemein.
Achsen und Sektoren
Wer das Hirn von Chandigarh verlässt, wer eintaucht in den Körper der Stadt, der erkennt trotz quicklebendigem Wuseln immer noch ganz deutlich jenes städtische Layout, das Le Corbusier und sein europäisches Team einst entwarfen. Den städtischen Raum haben sie in viereckige Sektoren eingeteilt, die durch grosse Strassenachsen – quer wie längs über Kreisverkehre verbunden – durchzogen werden. Eine urbane Konzeption für eine halbe Million Menschen, die sich bereits heute verdreifacht haben. Jedem Sektor ist eine Nummer zugeteilt, von 1 (Capitol Complex) bis 56. Kubische Nüchternheit und definierte Klarheit prägen bis heute die Strassenführung der kühnen Planstadt.
Interessanterweise fliesst hier der Verkehr, ganz anders als in vielen anderen indischen Städten, beinahe mühelos, und das, obwohl in den 1950er-Jahren kaum jemand hätte voraussehen können, welche Rolle das Automobil einmal spielen würde. Als die ersten Strassen fertiggestellt waren, fuhren die Regierungsbeamten grösstenteils noch auf Fahrrädern zu ihrer Arbeit zum Capitol Complex. Über die Bedeutung des Autos in der Gegenwart wäre Le Corbusier sicherlich nicht sonderlich froh gewesen. Genauso wenig wäre er mit der städtischen Nachverdichtung einverstanden, hatte er doch noch zu Lebzeiten vorgeschlagen, dass nach Vollendung aller geplanten Sektoren jegliche bauliche Weiterentwicklung im Umkreis von zehn Meilen zu unterlassen sei.
Die grüne Stadt
Bis heute legen die Stadtplaner:innen von Chandigarh grossen Wert auf Grünflächen. Kapil Setia, Chef-Architekt vom Department of Urban Planning der Chandigarh Administration, verweist auf den Schutz der Parks und Strassenbäume, die anhand eines ausgeklügelten Konzepts gepflanzt wurden. Weiter hebt er die grosse Bedeutung des Sukhna-Sees hervor, der nicht nur wichtiges Trinkwasser-Reservoir für die Stadt sei, sondern auch ein wichtiger Ort für die Freizeitgestaltung.
«Es geht darum, genügend Raum für die Städter zu haben. Tatsächlich haben wir in Chandigarh mehr Raum als in anderen indischen Städten, obwohl hier 10 000 Menschen pro Quadratkilometer leben. Die Grünräume sind Bestandteil des ursprünglichen Generalplans.» Setia betont, dass man gewillt sei, dieses grüne Erbe – gerade in Zeiten des Klimawandels – weiterhin zu schützen. So liegt der Anteil der Grünflächen bei derzeit bemerkenswerten 40 Prozent. «Wir weisen eine klare Hierarchie im städtischen Grün auf. Am Ende haben wir zu unseren 1800 öffentlichen gepflasterten Plätzen ein Gegengewicht von rund 1800 Grünflächen», konstatiert der Architekt. Wichtiger denn je sei deshalb, so Setia nachdrücklich, das Wohnkonzept der nachbarschaftlichen Nähe zu fördern. Konkret bedeutet das, die meisten Aktivitäten, ob nun Einkauf, Sport, Freizeit- und Familienvergnügungen oder sonstige Erledigungen, in weniger als zehn Minuten zu Fuss bewältigen zu können. Das entlaste den Verkehr, helfe die Luftverschmutzung zu reduzieren und sorge für ein entspannteres Stadtleben. Nachhaltigkeit, die Le Corbusier schon damals erkannte und mit einem Flächennutzungsplan adäquat definierte.
«Tatsächlich haben wir in Chandigarh mehr Raum als in anderen indischen Städten, obwohl hier 10 000 Menschen pro Quadratkilometer leben. »
Nur noch ein Gedankenspiel?
Wer kaufen will, muss gut verdienen: Für kleinere Wohnungen werden aktuell weit über 500 000 Euro verlangt. Eine Entwicklung, die wahrscheinlich nicht im Sinne eines Nehru ist und schon gar nicht im Geiste eines Mahatma Gandhi, der für die Gerechtigkeit zwischen den Kasten, Klassen und Religionen und auch zwischen Arm und Reich kämpfte. Letztlich ist es die gut situierte indische Mittelschicht, die mehrheitlich am Ufer des Sukhna ihre Wochenenden verbringt. Strassenzeichner bieten dort den Spaziergängern ihre Künste auf dem breiten Uferboulevard an, kleine Schiffchen nehmen Passagiere mit aufs Wasser und turtelnde Pärchen sind mit Tretbooten unterwegs. Es ist ein friedliches Treiben am Tag des Lori-Festes, einem Feiertag der religiösen Gemeinschaft der Sikh. Weit ab vom Weltengetümmel, von chronisch verstopften Verkehrswegen, schlechter Luft und politisch aufgeladener Atmosphäre. Chandigarh ist ein Ort, der von wagemutigen Gedanken gestaltet worden ist. Gedanken, wie sie in der heutigen Zeit leider nur noch selten gedacht werden.