Von einem befreundeten Architekten hörte ich zum ersten Mal vom Barbican Estate, als ich ihm erzählte, dass ich beruflich in London sein werde und das Wochenende anhänge. Er legte mir die brutalistische Überbauung wärmstens ans Herz. Ich nickte ihm zusichernd zu, dass ich seinem Tipp sicherlich folgen würde. Doch wirklich abspeichern wollte ich seine Empfehlung zu diesem Zeitpunkt nicht.
In London schliesslich klingelte es in meinem Kopf, als durch die krächzenden Tube-Lautsprecher die nächste Haltestelle «Barbican» ausgerufen wurde. Ohne viel zu überlegen, verliess ich die Metro: Ich wollte herausfinden, was sich hinter diesem Namen verbirgt. Seit diesem ersten Besuch im Frühling oder Herbst – so genau weiss ich es nicht mehr, sicherlich war es grün und wir sassen draussen auf der Lakeside Terrace, nahe am Wasser – gehört ein Abstecher zum Barbican zu meinen Pflichtbesuchen, wenn ich in London weile.
Aus dem Skizzenheft eines Schweizer Architekten
So besuchte ich das Barbican Estate auch vor wenigen Wochen bei meinem letzten Aufenthalt in London. Es war ein eher grauer Tag, der mit den kargen Betonbauten der «kleinen Stadt in der Stadt» verschmolz. Die Mini-Stadt nennen über 4000 Menschen in 2014 Wohnungen ihr Zuhause. Das Gelände, wo sich heute das Barbican Estate befindet, wurde während des Zweiten Weltkriegs vollständig zerstört. 1950 schrieb London einen Architekturwettbewerb aus, um dieses Gebiet wieder aufzubauen.
Die drei Architekten Chamberlin, Powell und Bon gewannen die Ausschreibung, bei der sie drei unterschiedliche Entwürfe einreichten, um ihre Chancen zu erhöhen. Das Kollektiv war geboren und mit dabei war Christoph Bon (1921 bis 1999), ein Schweizer Architekt, der somit mitverantwortlich war für eines der grössten städtebaulichen Einzelprojekte der britischen Nachkriegszeit.
Chamberlin, Powell und Bon setzten sich zu dieser Zeit mit «mixed density housing» auseinander und entwarfen drei Hochhäuser mit 43 oder 44 Stockwerken und 13 Reihenhäuser. Die unterschiedlichen Haustypen sind mit Fussgängerhöfen und Fussgängerinnenübergängen zu erreichen. Die Siedlung ist eine kleine Oase, losgelöst vom Verkehrschaos der Stadt, denn die Kombination aus eleganten Hochhäusern und unterschiedlich hohen Blocks symbolisiert das dichte städtische Leben in einer autofreien Umgebung.
Das Barbican lässt sich zum «New Urbanism» zählen, da es wie ein kleiner Mikroorganismus funktioniert. Im Estate befinden sich eine Schule, eine Musikschule, eine Kirche, ein kleiner Laden und ganz wichtig das grosse Kulturzentrum – im Mittelpunkt des Barbicans.
Kultur im Herzen
Der Unterschied vom Barbican Estate zu anderen Überbauungen ist, dass es sein Herz der Kultur gehört und so seinen Bewohner:innen mehr als bloss ihren privaten Lebensraum schafft, sondern viel Raum für Begegnungen mit Leuten aus dem Estate, Londoner:innen und Menschen aus der ganzen Welt. Das Barbican Estate beherbergt «The Hall», wo regelmässig Konzerte stattfinden; zudem gibt es ein Theater, mehrere Kinosäle und «The Pit», ein vielfältig einsetzbarer Ort mit einer flexiblen Tribüne. Neben Kultur findet man im Barbican viel Kunst. «The Art Gallery», «The Curve», wo Contemporary Art ausgestellt wird und der öffentliche Bereich bietet ebenfalls eine Plattform für wechselnde Ausstellungen, die den Besucher:innen frei zugänglich sind.
Nach soviel Kultur und Kunst brauche ich jeweils eine Pause und etwas zu Essen. Bei schönem Wetter holt man sich ganz einfach etwas in der «Barbican Kitchen», setzt sich auf die Lakeside Terrace, geniesst die Ruhe und das Wasserplätschern und vergisst total, dass man sich in einer Millionenstadt befindet.
Spielt das Wetter nicht mit, dann geht zur «Martini Bar» – mein persönlicher Lieblingsort im Inneren des Barbicans. Die runde Bar befindet sich im ersten Stock und ermöglicht einen wunderbaren Blick nach draussen auf die Lakeside Terrace. Wenn man auf der Suche nach neuen Bekanntschaften ist, lässt sich dort ganz wunderbar auf die andere Seite der runden Bar flirten. Um das Eis zu brechen, erzählt man dem neuen Gegenüber einfach, dass die Bar erst 2012 hineingebaut wurde, sozusagen als Vorspiel, um die Martini-Trinker zu bedienen, die die Ausstellung «Designing 007» besuchen.
Die grüne Lunge
Einer der grössten Magnete, besonders für jüngere Leute, ist «The Conservatory». Die grüne, tropische Lunge des Barbican Estates, wo sich über 1500 unterschiedliche Pflanzen und Bäume in einem eingebetteten Glas-Kubus tummeln und exotische Fische in den Indoor-Pools schwimmen. Das Dach des Würfels besteht aus kleinen, mit Stahl umrandeten Fenstern und umfasst eine Fläche von 23.000 Quadratmetern. Besonders an grauen Tagen ein wunderbarer Tapetenwechsel.
Auch hier wird immer wieder Kunst inszeniert; aktuell ist die Installation «Cloud Songs on the Horizon» der indischen Künstlerin Ranjani Shettar zu sehen. Die Skulpturen, die sie alle eigenhändig in ihrem Atelier in Karnataka gefertigt hat, hat sie speziell für das Barbican kreiert. Shettar liebt es, sich auf den jeweiligen Kontext und die Umgebung einzulassen und mit unterschiedlichen Handwerkstechniken und Materialien zu vereinen.
Raum für Individualität
Ich liebe es beim Spazieren in fremde Wohnungen zu spähen und das soll jetzt kein geschmackloses voyeuristisches Bild von mir vermitteln; es ist einfach mein grosses Interesse für Wohnkultur. Es ist unglaublich spannend, wie in einem Memory herauszufinden, welcher Mensch zu welcher Wohnung passt. Und so geht es mir auch, wenn ich durchs Barbican spaziere. Ganz besonders, als ich erfahren habe, dass es in 140 verschiedene Wohnungstypen unterteilt ist. Ich versuche jeweils Blicke ins Innere zu erhaschen, um herauszufinden, wie die Wohnungen in diesem riesigen Koloss aussehen und ebenfalls, um zu sehen, wer darin wie wohnt.
Dank Anton Rodriguez muss ich nicht mehr ganz nahe an den Hauswänden des Barbicans entlang streifen und zwischen den Spalten der Vorhänge rein blinzeln. Denn der Fotograf hat in seinem Buch «Barbican Residents» mehrere Haushalte und ihre individuell eingerichteten Wohnungen in der grossen Nachkriegsüberbebauung porträtiert. Er selbst hat während fünf Jahren in sechs unterschiedlichen Wohnungen des Barbicans gewohnt.
Die Innenräume sind eine Mischung zwischen effizient optimierten Räumen, die oft durch Schiebetüren getrennt sind, und scheinbar verschwendeten doppelt so hohen oder tonnengewölbten Räumen oder nutzlosen Nischen. Doch genau das macht den Charme der Wohnungen aus, die ihnen eine Funktionalität und gleichzeitige Luftigkeit verleihen und somit unglaublich viel Charakter.
In Balance zwischen zwei Welten
Zwei Welten lassen sich auch von aussen erkennen, so schienen die Architekten eine Balance finden zu wollen zwischen Tradition, indem sie für diese Zeit zeichnende Elemente einfliessen liessen und gleichzeitig versprüht das Barbican Estate den Wunsch nach Moderne und Aufbruch, der sich im Nachkriegseuropa vielerorts bemerkbar machte.
Ich werde beim nächsten Besuch in London wieder den obligaten Ausflug zum Barbican machen. Um wieder neue architektonische Scharfsinnigkeiten festzustellen, auf der Lakeside Terrace der Stadt zu entfliehen und um an der Martini Bar mit einer Bewohnerin oder einem Bewohner Freundschaft zu schliessen und so eine Wohnung einmal von innen zu betrachten.