Die Basler Architektin Yvonne Rösch-Rütsche hat in den jurassischen Freibergen ein Haus gebaut, welches sich unaufgeregt in die Dorflandschaft fügt und eine einmalige Geschichte erzählt.
Weite Wiesen und Weiden, mächtige Fichten- und Tannenwälder und die typischen Bauernhäuser, die Wohnbereich und Stall unter einem Dach vereinen – dies sind die Freiberge, die sich zwischen La Chaux-de-Fonds im Südwesten, dem tief eingeschnittenen Tal des Doubs im Nordwesten, dem Delsberger Becken im Nordosten und der Bergkette des Mont-Soleil im Südosten ausdehnen. Das sanft gewellte Hochplateau auf 1000 Meter über Meer wirkt im Winter mit einer weiss glänzenden Schneeschicht überzogen und im Sommer unter blauem Himmel fast lieblich, doch ist die Sonne hinter den Wolken verschwunden, ist das Klima im Südwesten des Schweizer Juras ganz schön rau.
Mitten in dieser mystisch schönen Landschaft liegt das 700-Seelen-Dorf Lajoux. Nach langer Suche und der Unterstützung der Gemeinde hat ein Ehepaar an diesem besonderen Ort über der Nebelgrenze ein einzigartiges Grundstück gefunden. Erhöht an einer Quartierstrasse, nur einen Steinwurf vom Dorfkern entfernt und dazu mit unverbaubarem Blick über eine Wiese steht heute ein Baukörper, der sich unaufgeregt und selbstverständlich in die Dorfstruktur fügt.
«Ziel war es, einen Ort zu schaffen, wo man sich weit weg vom Alltag zurückziehen kann», beschreibt die Basler Architektin Yvonne Rösch-Rütsche. «Auch eine langfristig gedachte Nutzungsflexibilität gehörte zu den zentralen Anliegen der Bauherrschaft. Das Gebäude soll nachhaltig als Wohnhaus, Ferienwohnung oder Seminarhaus genutzt werden. So pflegten wir von Beginn weg einen intensiven Kontakt mit der Gemeinde und der Bevölkerung von Lajoux.» Entstanden ist ein wohlproportioniertes und bis ins Detail perfekt ausgearbeitetes Haus, das in der Typologie der Scheune gestaltet ist. Der vorgefertigte Holzelementbau steht auf einer betonierten Bodenplatte, die durch ihre L-Form das Haus zum Hang hin gegen Wasser und Schnee absichert. Von aussen gibt sich das Gebäude mit seiner Form und der vertikalen Verkleidung aus Tannenholz schlicht und zurückhaltend.
Tritt man über die Schwelle des Hauses, spürt man die ganze räumliche Kraft des Entwurfs. Durch einen bewusst eng gefassten Flur, der mit edlen Messingplatten ausgefacht ist, wird man über eine Rampe zum Licht geführt und gelangt ins Herzstück des Hauses: Im grossen Wohn- und Essraum ist der Blick bis unters Dach und hinaus in die Landschaft atemberaubend. Mit stilsicherer Hand hat die Architektin die Innenräume wie ein Schmuckkästchen mit edlen Materialien wie Messing und Eiche aus der Region für Parkett und sämtliche Einbauten ausstaffiert. Ein besonderer Hingucker ist eine Tapete mit dem Motiv einer Karawane. Dieser zweistöckige Raum kontrastiert mit den klein gefassten Schlafkojen, den zwei Bädern und der Küche. Unter dem Dach befindet sich die Galerie, die ebenfalls vielseitig als Matratzenlager, Gymnastikraum oder Arbeitsfläche bespielbar ist. Yvonne Rösch-Rütsche hat einen einladenden Rückzugsort geschaffen, der ausschliesslich mit Handwerkern aus der Umgebung gebaut wurde und zu einem wahren Leuchtturmprojekt für die Region Freiberge gewachsen ist.
Von 1986 bis 1990 studierte Yvonne Rösch-Rütsche an der Fachhochschule beider Basel Architektur. Nach ihrem Diplom verdiente sie ihre Sporen in den Büros von Burkhalter Sumi und Diener & Diener ab. Von 1991 bis 1992 arbeitete und lebte sie in Tokio und Kyoto, Japan. Seit 1996 betreibt Yvonne Rösch-Rütsche mit einem kleinen, aber feinen Team in Basel erfolgreich ihr eigenes Architekturbüro. Von 2005 bis 2006 bildete sie sich zudem zur Immobilienökonomin (Master of Science in Real Estate Curem ZH) weiter. Seit vielen Jahren ist sie weiter Fachmitglied in der Dorfkernplanung bei der Gemeinde Münchenstein BL, Expertin in der Schatzungskommission am Bundesgericht (Kreis 7) in Lausanne und Kantonale Gebäudeschätzerin von Basel-Stadt.
Der Jurybericht
Das Projekt «Jura Libre» in der Gemeinde Lajoux positioniert sich mit einem konzeptionell eigenständigen, multifunktionalen Wohngebäude, das individuelle Lebensformen mit den komplexen Anforderungen im konkreten Kontext der strukturschwachen Region kongenial verknüpft. Architektur und Design folgen dem Prinzip des Verwebens unterschiedlichster Komponenten, das Ganze entsteht gerade aus einer innovativen Choreografie von Räumen und Funktionen, dessen Architektur auch in seiner Ästhetik und Materialität besticht. Durch die offen gestaltete Nutzungsvielfalt, die Atelier-, Verantstaltungs-, Ausstellungs- oder Wohnräumlichkeiten für grössere Gruppen bereitstellt, ohne dass die bauliche Substanz verändert werden muss, bietet das Projekt der Architektin Yvonne Rösch-Rütsche einen unschätzbaren Mehrwert – nicht zuletzt zur Aktivierung – für Gemeinde und Region. Zudem überzeugt das Projekt durch seine Haltung, ein Bauwerk als kollektives Werk zu verstehen und dabei regionale Gewerke einzubeziehen.
Die Suche nach dem «besten Einfamilienhaus» ist seit einigen Jahren durch einen neuen Fokus bestimmt, der sich nicht mehr massgeblich auf Ästhetik und gestalterische Komponenten bezieht, sondern auch innovative Ansätze hervorhebt, die nachhaltige Lösungen in einem ganzheitlichen Sinn entwerfen und soziale, gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Themen miteinbeziehen, sich von standardisierten Wohn- und Arbeitswelten befreien, Identität stiften und Leitplanken für zukünftige Wohnformen setzen. So geht es um Prototypen und Erfindungen im Grossen wie im Kleinen, die wegweisend sein können. Dabei hat uns die Pandemie gezeigt oder vielleicht prophezeit, wo der Wandel in den gesellschaftlichen Strukturen einsetzen könnte und dass sich Grenzen zwischen den standardisierten Lebensformen auflösen, Home zum Office und Office zum Home werden kann. Nachbarschaftliche Kontakte und soziale Verantwortung gewinnen an neuer Relevanz, Leistbarkeit und partizipative Interaktion – im städtischen wie im ländlichen Kontext – sind weiterhin von grosser Bedeutung. In diesem Sinne trägt «Jura Libre» in mannigfaltiger Weise zu den aktuellen Diskussionen bei.
Die Jury-Laudatio von Jurypräsidentin Barbara Holzer