Der Tod von Ian Curtis, dem Frontmann von Joy Division, jährte sich Mitte Mai zum 39. Mal und obwohl es nicht mal ein «rundes Jubiläum» war, kam man in diesen Tagen fast nicht umhin, irgendwann einem Bild seines Grabsteins zu begegnen. Der Stein irgendwo im Norden Englands ist mit dem Titel einem der bekanntesten Songs von Joy Division beschriftet: «Love will tear us apart». Seine Frau hatte die Inschrift gewählt, nachdem sich Curtis damals, vor gut 39 Jahren, erhängt hatte. Bis über den Tod hinaus würde das Werk und ihr Einfluss auf die Musik der ausgehenden 70er Jahre untrennbar mit der Figur des Frontsängers verbunden sein.
Todesmeldungen schienen in diesen Tagen in der Luft zu liegen, denn nachdem ich den dritten Artikel zu Curtis – natürlich mit Grabstein-Bebilderung – sah, fiel mir ein Beitrag direkt darunter ins Auge: I.M. Pei ist im Alter von 102 Jahren gestorben. Daneben ein Schwarz-weiss-Bild von einem lachenden Mann vor der markanten gläsernen Louvre-Pyramide mit kreisrunder Le Corbusier-Brille und erhobener rechten Hand, die im Moment, als der Auslöser gedrückt wurde, noch in Bewegung war, als hätte er den Fotografen davon abhalten wollen, ihn zu erwischen.
Ein sympathisches Foto, das eher wie ein Schnappschuss wirkt, als eine Dokumentation des Architekten vor seinem Werk. Denn das ist, was das Bild tatsächlich zeigt. Aus Ieoh Ming Peis Feder stammte die Idee, die seit ihrer Umsetzung 1989 nicht nur Haupteingang des Museums, sondern zu einem Wahrzeichen der Weltstadt geworden ist. Ich hatte mich noch nie gefragt, wer hinter der Pyramide des Louvre stand – und von Pei hatte ich auch noch nie gehört.
Und das ging nicht nur mir so. Auch andere, mit einem weitaus grösseren Wissen zu Architektur, kannten den frisch verstorbenen chinesisch-amerikanischen Architekten nicht. Dabei hatte er in seinen 102 Jahren nicht nur unter Walter Gropius und Marcel Breuer studiert, in Harvard gelehrt und mit ihnen für bekannte Gebäude rund um den Erdball, wie dem Bank of China Tower in Hong Kong (1990) oder das Museum of Islamic Art in Doha, Qatar (2008), gesorgt. Doch er fiel nie in einem Atemzug mit den Zumthors, Koolhaases, Gehrys, Fosters, Holls und Libeskinds – und das hatte etwas extrem Erfrischendes.
Das warmherzige Lächeln von Pei begegnete mir in den Tagen nach seinem Tod noch häufiger, nicht allzu lange darauf flachte die Artikelwelle wieder ab, doch die positive Assoziation mit dem Architekten blieb. Trotz seiner weltweiten Erfolge schien er in seiner Profession eine Demut zu verkörpern, die den meisten Stararchitekten abgeht. Häufig, wenn es um grosse architektonische Projekte geht, wird der oder die leitende Architekt/in verkündet, als wäre ihre blosse Beteiligung schon der Garant für ein überzeugendes Gebäude. Ein allgemeiner Personenkult, der auch in diesen Gesellschaftsbereich eingezogen ist, lässt sich nicht bestreiten und lässt sich bereits auf die Postmoderne Phase der 1970er zurückführen. Einige der grössten Stars waren für Werke bekannt, die nur im Modell bestanden und teilweise sogar nicht mal umsetzbar waren. Ähnlich wie die Avantgarde der Pop-Kultur und Kunst findet man in der Architektur den Trend, die Qualität ihrer Gebäude innerhalb des Systems – also der Community von anderen Architekten – bewerten zu lassen.
Im Fall von Pei kam es mir so vor, als würde es ganz natürlich geschehen, dass der Architekt dem Gebäude den Vortritt lässt. Dass die gläserne Pyramide vor dem Louvre dermassen für sich steht, dass die Frage nach dem Erbauer gar nicht aufkommt. Und dass das Nachdenken über Architektur und ihrer Wirkung in erster Linie mit dem Gedanken am Gebäude geschieht, der sich mit ihm auseinandersetzt, es wirklich wahrnimmt und es erfasst.
Pei hat Dinge geschaffen, die noch lange nach ihm und auch weiterhin als Wahrzeichen in der Welt bestehen werden. «In mir trage ich den grossen Wunsch, etwas hinterlassen zu wollen. Das hat nichts mit Ego zu tun. Ich glaube, man schuldet es der eigenen Existenz, etwas zu hinterlassen, das bleibt.», sagte er über seine Motivation als Architekt. Es ist schön, mit dem Tod an die Errungenschaften eines Lebens erinnert zu werden. Doch im Gegensatz zu Ian Curtis’ Musik sind die Bauwerke längst etwas Eigenes geworden. Und darin liegt doch das eigentliche Potential der Architektur – grösser und unabhängig zu sein, als der Mensch, von dem sie stammen.