Die Besitzerin des bekannten Gästehauses Brücke 49 in Vals kam mit ihrem Mann vor mehr als 20 Jahren ins Alpental, um eine Auszeit von ihren hektischen Berufen und dem Stadtleben in Dänemark zu nehmen. Sie verliebten sich in das malerische Dorf und investierten mit grossem Risiko – und Erfolg – in ihre Vision, ein kleines, perfektes Guesthouse zu realisieren. Die Brücke 49, eröffnet 2010, ist ein weltoffenes Haus, wo sich Gleichgesinnte treffen, um interessante Gespräche zu führen, zusammen Brot zu backen, sich verwöhnen zu lassen – aber auch um die umliegende Natur zu erforschen und zu geniessen und abends mit einem Buch im gemütlichen Wohnraum zu entspannen.
Dazu kam zehn Jahre später die Herberge, unmittelbar nebenan gelegen, ausgestattet mit Ferienwohnungen als Ergänzung zu den bestehenden Gästezimmern. Das Erd-geschoss des nun ebenfalls umgebauten
Heustallszwischen den beiden Gebäuden diente zuerst als Ladenlokal, darüber lag der gemeinschaftlich genutzte Yogaraum.
Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes stellte sich für Ruth Kramer die Frage, ob sie in Vals bleiben oder weit weg gehen wollte. Es gab die Möglichkeit, in der Vergangenheit zu verharren oder unter neuen Voraussetzungen weiterzumachen. Das Refugium mit Brücke 49 und Herberge war voller Erinnerungen an die zusammen verbrachten Zeiten. Nach Monaten der Trauer entschloss sie sich, im Dorf, das ihre Heimat geworden war, zu bleiben, in die Zukunft zu schauen und den gemeinsamen Traum weiterzuverfolgen. Dazu gehörte für sie, das grosse Haus zu verlassen und sich ein neues, eigenes Reich zu schaffen. Sie suchte einen heilenden, ruhigen Ort, der für sie allein perfekt sein sollte, und entschied sich für den ehemaligen Heustall zwischen den beiden Gästehäusern.
Ruth hat das kleine Haus mit ihrem Gespür für Materialien, dem Auge für das Wesentliche und ihrer ganz persönlichen Mischung aus skandinavischen und ortsspezifischen Einflüssen zu ihrem individuellen Zuhause gemacht. Ihren Einrichtungsstil bezeichnet sie deshalb auch als Skandi-Swiss. Die Fassaden hat sie sanft restauriert und den neuen Gegebenheiten angepasst.
Der Umbau überzeugt durch Hochwertigkeit, Zurückhaltung und einen sorgfältigen Umgang mit Materialien.
Bei nur 50 Quadratmetern Fläche ist jeder architektonische Eingriff von Bedeutung, jede Massnahme ist wichtig. Ruth hat sich beim Umbau auf nur wenige Materialien beschränkt und diese gekonnt kombiniert: Stein, Beton, Holz und Kupfer. Die Wände bestehen aus Sichtbeton oder sind mit weiss gestrichenem Holz verkleidet, es wurden naturbelassene Holzdielen verwendet und ein durchgehender Terrazzoboden im Erdgeschoss verlegt. Die beiden Räume und deren Einrichtung sind klar und schnörkellos, die vielen Fenster bieten einen grossartigen Ausblick auf das Dorf und die Bergwelt. Nur die nötigsten Gegenstände und Kleider sind in eingebauten Holzschränken und eingelassenen Holzschubladen untergebracht. Von den vielen gemeinsam gesammelten Möbeln hat Ruth die für sie wichtigsten ausgesucht. Ihre Gegenwart beinhaltet das Leben auf kleinem Raum mit wenig Einrichtungsgegenständen – die direkte Umsetzung von «less is more» ist hier nicht nur ein Leitsatz. Für ihr Leben benötigt sie Sonnenlicht und Ruhe, für ihre Ideen Ordnung und Stille.
Atypisch ist die Aufteilung der Innenräume, denn das Schlafgeschoss liegt auf Höhe der Strasse, der Hauseingang und der Wohn-/Essraum mit der Küche befinden sich im Obergeschoss. Über den Eingang mit dem aufklappbaren Guckloch betritt man direkt den Hauptraum. Die schlichte, lang gezogene Küchenzeile an der Wand besteht aus unbehandeltem Holz. Anstelle der üblichen Oberschränke verfügt sie nur über ein schma-les Regal, wo formschönes Geschirr und einzelne Kochbücher locker angeordnet sind. Die Rückfront ist aus grau meliertem Marmor. In einem raumhohen Einbau sind Backofen und Kühlschrank untergebracht. Der Essplatz mit dem Holztisch und den «Vester»-Stühlen von Skagerak bietet Platz für vier Personen. Auf der anderen Seite stehen zwei Sessel, der «Flag Halyard» und der «Papa Bear», beides Entwürfe von Hans Wegner, dem Fenster und der Aussicht zugewandt. In einer kleinen Nische mit einem eingebauten Tisch und einfachen Regalen bewältigt Ruth Kramer den grössten Teil ihrer Arbeit. Ein Cheminée mit angebauter Ofenbank sorgt für Wärme und eine gemütliche Atmosphäre.
Das kleine Haus ist eine Oase der Ruhe – archaisch und minimalistisch.
Über eine Holztreppe gelangt man in den privaten Bereich mit dem Schlafzimmer. Eine grosse Fensterfront öffnet sich auf den davor angelegten Garten. Ruth hat es geschafft, diesen anstelle des von der Baubehörde verlangten Parkplatzes durchzusetzen, und damit eine wohltuende Zäsur zwischen Haus und Strasse geschaffen. Überhaupt ist die gebaute Natur ein wichtiges Thema für Ruth Kramer. Das kleine Haus verfügt über drei verschiedene Gärten, welche ihr je nach Jahreszeit und Sonnenstand zum Lesen und Verweilen dienen. Das Schlafzimmer mit den Sichtbetonwänden hat Ruth zu ihrer persönlichen Oase der Ruhe gemacht. Raumhohe Holzfronten verbergen Einbauschränke und ein perfekt geschnittenes Bad. Auch hier ist alles auf das Notwendige reduziert, hochästhetisch und durchdacht, mit hochwertigen Materialien und schlichten Accessoires. Das Bett steht mit dem Kopfende an einer verputzten Wandscheibe mit eingebauten Nischen für Lieblingsbücher und Erinnerungsstücke. Die einzigen weiteren Möbel sind ein Sideboard an der freien Betonwand und der «Safari Chair» von Kaare Klint.
Ruth Kramer hat mit ausgesuchten Gegenständen und Möbeln die Vergangenheit in die Gegenwart geholt. Ohne am Schicksal zu zerbrechen, hat sie sich mit dem Umbau des ehemaligen Heustalls ein kleines Paradies erschaffen, das viele schöne Momente für die Zukunft bereithält. Und durch das kleine, farbige Fenster in der Küche, welches sie im Gedenken an Thomas eingebaut hat, sieht sie jeden Tag ein Stück vom Himmel.