Im Bachelorstudium lehrte uns eine Branding-Vorlesung, dass es Tempo Papiertaschentücher wirklich geschafft hatten. Anstatt nach Taschentüchern, fragen Leute inzwischen nach einem Tempo – der Markenname ist zum Synonym für das Produkt geworden. Spätestens seit ich zum ersten Mal jemanden von einem «kondoisierten Kleiderschrank» habe sprechen hören, wusste ich von der unaufhaltsamen Revolution, die Marie Kondo in der Welt des Aufräumens losgetreten hatte.
Marie Kondō ist Beraterin und Coach im Bereich Aufräumen. Die 34-jährige Japanerin steht im Zentrum eines Imperiums der Ordnung: Ihr 2011 erstmals veröffentlichtes Buch Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert (2013 auf Deutsch erschienen) hat es in Rekordzeit an die Spitze der Bestseller-Listen geschafft. Inzwischen sind zwei weitere Bücher erschienen, die in mehr als 27 Sprachen übersetzt wurden und sich um die 7 Millionen Mal verkauften. 2019 – pünktlich zum neuen Jahr, wenn der Wunsch und die Vorsätze nach mehr Ordnung im Leben noch am stärksten sind – startete auf Netflix sogar ihre eigene Serie Aufräumen mit Marie Kondo.
Ein Paradox, wenn man sich vorstellt, sich in seiner Freizeit hinzusetzen und anderen Leuten beim Ordnung schaffen zuzusehen – per Streamingdienst. Das Geheimnis hinter der Aufwertung des leidigen Themas Aufräumen ist eine entscheidende Umdeutung, der ihr gelungen ist: In Kondōs Welt hat es sich vom mühseligen Muss im Haushalt zu einer einmaligen Chance für das eigene Leben gewandelt. Die Unordnung im Wohnraum ist ein Spiegel unserer Seele und durch das Aufräumen erlangen wir letztendlich auch Ordnung in unserem Innern. Und damit ein besseres Leben.
Ist es wirklich so einfach?
So kreisen Kondōs Tipps um Freude, Loslassen, Dankbarkeit und Konsequenz. Ihre Methode mutet fast simpel an: Im Zentrum steht die Frage nach der Freude, die ein Gegenstand in einem auslöst. Wichtig ist es dabei, das Objekt zu berühren und sorgsam in sich reinzuhorchen, welches Gefühl sich regt. Das mag auf den ersten Blick ein wenig esoterisch wirken, aber denken Sie kurz an einen Gegenstand, den Sie wirklich lieben. Ein Mantel, der das Erbstück ihrer Mutter ist, einen Teller, den Sie auf Reisen entdeckt haben, ein Plaid, das Ihnen die schönsten Erinnerungen an lauwarme Sommerabende bereitet und von dem Sie sich nie trennen würden. Es gibt sie wirklich, die Dinge, die wahre Freude in uns auslösen – und es gibt all den Rest, der uns die Ecken vollstellt.
Das Konzept trifft voll unseren Zeitgeist, wie der Rummel bestätigt, den die Netflix-Serie ausgelöst hat. Bewussterer Konsum und die Frage nach den Produktionsbedingungen unserer Verbrauchsgüter haben bei vielen zu einem Umdenken geführt. Nachhaltigkeit und Langlebigkeit sind längst in unsere Konsumentscheidungen eingeflossen und prägen die Wirtschaft.
Kondōs Aufräum-Philosophie ist von japanischen Einflüssen geprägt. In ihren Büchern, aber vor allem in der Serie, spürt man die Achtsamkeit durch, die sie selbst den banalsten Gegenständen entgegenbringt. Ihr fast liebevoller Umgang mit einem Paar Socken erinnert an den Gedanken, nach dem im japanischen Volksglauben Dinge, die über 100 Jahre alt sind, eine Seele entwickeln. Die Tsukumogami, wie die «beseelten» Gegenstände heissen, sind fester Bestandteil des Alltags und erfordern einen respektvollen Umgang, der sich in der Wertschätzung des natürlichen Alterns in der japanischen Ästhetik (Stichwort: Wabi-Sabi) fortführt.
Was ihre Einstellung jedoch zu einem Kunstgriff macht, ist die Skalierbarkeit. Denn Kondō ist keinesfalls Verfechterin von schnödem Minimalismus, der in der Theorie zwar begeistert, sobald man eine ästhetisch drapierte Kleiderstange mit drei weissen T-Shirts und zwei säuberlich gefalteten Hosen sieht, aber an dem man in der Praxis kläglich scheitert, und das Modell anschliessend über Bord wirft. Wem ein Haus voller freudenerregender Dinge zusagt, der kann mit ihrer Methode trotzdem Ordnung halten.
Nun, da mit dem überraschend schönen Wetter der Frühjahrsputz schon wieder im Nacken sitzt, ist es Zeit, sich auf eine aufgeräumtere Philosophie einzulassen. Die Kondoisierung ist vielleicht gar keine so schlechte Idee – sei es nun der Kleiderschrank, die Wohnung oder gleich das ganze Leben.